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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Scholaren und Dirnen zu, die soffen und lachten und sich vergnügten. Für sie gab es keine Machina Mundi, keine Bedrohung ihrer ewigen Glückseligkeit. Sie scherten sich nicht darum, was ihre Seelen nach dem Tod erwartete. Lebt nicht jeder in der Welt, die er sich schafft?
    Bevor ich in Trübsinn verfallen oder zu tieferer Einsicht gelangen konnte, verschluckte ich einen Löffel Zwiebelmus und hustete mir die Seele aus dem Leib, als habe Villon mich angesteckt. Leonardo klopfte mir auf den Rücken, bis es mir besser ging und ich den Hustenreiz mit einem Schluck Wein gänzlich beruhigen konnte.
    »Nicht so gierig schlingen, Signore Armand«, ermahnte mich der Italiener. »An gekochten Zwiebeln zu ersticken ist weder ein rühmlicher noch ein angenehmer Tod.«
    »Verdammt, haltet endlich den Mund!« fuhr ich ihn an. »Ich habe mich nicht aus Gier verschluckt, sondern vor Überraschung. Vor Schreck, wenn Ihr so wol t. Seht Ihr die Tänzer neben dem Ofen des Pastetenbäk-kers? Für einen Augenblick erblickte ich dahinter das Gesicht des Mannes, vor dem ich mich bislang verstecken konnte: Gil es Godin.«
    Wir sprangen auf, und Leonardo warf ein paar Münzen auf den Tisch. Eilig tauchten wir in die Menge ein, umkreisten die ausgelassenen Tänzer und spähten in alle Richtungen. Vergebens, Godin war nirgends zu sehen.
    Villon blickte nach Westen, wo fünf große Lagerschuppen im Schatten einiger Pappeln standen. »Eigenartig, aber vorhin fiel es mir nicht auf. Niemand treibt sich dort herum. Ist es nicht sonderbar, daß da nicht einmal ein streunender Köter herumstreift oder eine Dirne den Schutz der Schuppen nutzt, um ihren Freier zu beglücken? Als sei der Ort verflucht, umgeben von einer abstoßenden Aura.«

    Wir drückten uns zwischen die lang gestreckten Gebäude und fanden sie tatsächlich verlassen. Hinter ihnen wölbte sich eine mit Disteln, Brennnesseln und anderem Unkraut bewachsene Böschung. Ich rüttelte an der Tür eines der Schuppen und stellte fest, daß sie verschlossen war. Tommaso vermochte sie mit einem schlanken Hakenschlüssel zu öffnen, und wir betraten den düsteren Raum, in dem wir nichts weiter fanden als lange Reihen großer Tuchballen, zu mehreren aufeinander gestapelt.
    »Das Marktlager der Tuchhändler«, sagte ich enttäuscht. »Wieder nichts!«
    Erst jetzt fiel mir auf, daß mein Vater uns nicht in den Schuppen gefolgt war. Ich entdeckte ihn in der Böschung. Bis zu den Knien stand er in den Brennnesseln und starrte auf seinen Bauchkasten. Er hatte die Kapuze zurückgeschoben und sah uns entgegen. Die alten Augen leuchteten, als er rief: »Sie bewegt sich, die Stange zittert!« Er blickte wieder auf seinen Kasten und wir mit ihm. Das schmale Metallrohr, das mit beiden Enden in festen Halterungen saß, zitterte in unregelmäßigen Abständen kaum merklich. »Ich wollte euch gerade in den Schuppen folgen, als ich es bemerkte. Je näher ich der Böschung kam, desto stärker wurde es. Versuchen wir es jenseits der Böschung.«
    Ungeachtet der schmerzhaften Bisse von Dornen, Disteln und Brennnesseln kämpften wir uns hangabwärts voran. Deutlich spürte ich die Erregung, die uns alle erfasst hatte, das Jagdfieber. Mit jedem Schritt zitterte die Metallstange stärker, als werde sie von einer geheimnisvollen Kraft magisch angezogen. Oder, als fürchte sie sich vor dem Ort, den wir suchten.
    Atalante übernahm die Führung, zog seinen Dolch und schlug immer wieder auf Ranken und Buschwerk ein, um uns das Fortkommen ein wenig zu erleichtern. Am Grund des Hangs angelangt, stieß er unvermittelt einen erstickten Laut aus und stürzte zu Boden. Sein Fuß hatte sich am Boden verfangen. Leonardo reichte ihm die Hand und zog ihn wieder auf die Beine.
    »Ein Erdloch«, meinte Tommaso. »Der Bau eines Fuchses oder eines Kaninchens.«

    »Hier gibt es weder Füchse noch Kaninchen«, widersprach Villon.
    »Keine Vögel, keine Schmetterlinge und keine Bienen. Obwohl die Tiere ungestört wären, fliehen sie diesen Ort.«
    Jetzt fiel es uns allen auf. Weder Vogelzwitschern noch Bienensum-men erfüllte den warmen Julinachmittag. Gespenstische Stille hätte geherrscht, wäre nicht der Marktlärm gewesen. Wir konnten das bunte Treiben nicht mehr sehen, hörten nur ein ständig auf- und abschwellendes Gemenge aus Musik und den Stimmen von Mensch und Tier, fern und doch deutlich, wie das Brandungsrauschen eines verborgenen Strandes. Mir war, als hätten wir eine unsichtbare Grenze überschritten und eine fremde

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