Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
Vom Netzwerk:
hilflosen, blutenden Fleisches.
    Unser Angriff kam überraschend und hatte kurzzeitigen Erfolg, doch scheiterte er, wie ich es befürchtet hatte, an der feindlichen Übermacht. Hustend und spuckend traten die ersten Dragowiten aus dem sich allmählich verziehenden Rauch und fielen über uns her. Einer versetzte Leonardo mit dem Schaft einer Pike einen Hieb auf den Kopf und beförderte ihn neben Godin auf den Boden. Mir drückte jemand von hinten eine Armbrust in den Rücken, bereit, mich bei der kleinsten Bewegung zu durchbohren. Also gehorchte ich seinem Befehl und ließ den Dolch fallen. Auch Tommaso und Atalante, der sich aufgrund seiner Verwundung kaum wehren konnte, mußten sich den Dragowiten ergeben. Nur Villon konnte ich nirgends entdecken.
    »Ihr seid tapfer und einfallsreich, aber auch dumm«, sagte der Groß-
    meister. »Wozu kämpfen, wenn man bereits verloren hat?«
    Er stockte und sah sich um. In diesem unpassenden Augenblick kam mir der Gedanke, daß er die Welt durch seine Smaragdaugen in einem einzigen Grün sehen mußte.
    »Wo steckt der König der Muschelbrüder?« fragte der Großmeister, und zum ersten Mal nahm ich einen Anflug von Unsicherheit bei ihm wahr. »Wer hat diesen Villon gesehen?«
    Ein Aufschrei aus mehreren Kehlen war die Antwort. Jetzt sah auch ich meinen Vater, der in dem allgemeinen Durcheinander Frollo gefolgt war und hinter ihm auf die Weltmaschine kletterte. Der Archidiakon, der auf einem schmalen Holzsteg in etwa drei Klafter Höhe stand, erblickte den Verfolger, stellte die Schale mit dem Sonnenstein ab und zog sein Schwert.
    Villon traf keine Anstalten zu einem Angriff, hatte auch gar keine Waffe. Zehn Fuß vor Frollo blieb er stehen und sagte: »Tut es nicht, Dom Claude! Ich weiß, daß Ihr nur ein Verblendeter seid. Ich habe es in Euren Augen gesehen. Ihr tut alles, um Euer Ziel zu erreichen, aber nur, weil Ihr glaubt, das Rechte zu tun. Doch Ihr irrt. Wenn Ihr die Kraft des Sonnensteins entfaltet, werden die Seelen nicht gerettet.
    Dann obsiegt Satan für immer!«
    »Lüge!« bellte Frollo, und die Adern auf seiner Stirn traten hervor.
    »Ihr Abtrünnigen lügt seit Jahrhunderten, um Satans Herrschaft zu verlängern.« Er zeigte auf den Sonnenstein. »Dies ist die Kraft, die das Böse besiegt!«
    »Ihr besiegt die Menschheit, indem Ihr den armen Seelen die Möglichkeit zur Läuterung nehmt.« Villon klang traurig, mutlos. Er glaubte an seine Wahrheit so fest wie Frollo an die seine. Wer konnte in wenigen Augenblicken einen Glauben erschüttern, der sich durch Jahrhunderte verfestigt hatte?
    Nach einem Blick zu dem Käfig mit Colette und ihrem Vater versuchte ich es dennoch, indem ich schrie: »Frollo, erinnert Euch an unser Gespräch in Quasimodos Zelle! Habt Ihr mir nicht von den Maschinen erzählt, von denen die Menschen verdrängt werden, vom Sieg der Materie über Geist und Seele?«
    »Ich erinnere mich«, erwiderte Frollo. »Und?«
    »Jetzt macht Ihr Euch zum Handlanger einer Maschine, zu ihrem Sklaven. Maschine steht gegen Mensch, und Ihr helft der Maschine!«
    »Es ist keine beliebige Maschine, sondern die Machina Mundi des Raimundus Lullus.«
    »Was ändert das? Wie kann eine Maschine, ein Haufen toter Materie, helfen, Seelen zu retten? Sie kann Menschen nur zu ihresgleichen machen, zu toter Materie!«
    Ich sah in Frollos Gesicht den Zweifel, den ich geweckt hatte und der die letzte Hoffnung der Menschheit war. Sein Blick glitt an den endlosen Windungen und Auswüchsen der Weltmaschine entlang, richtete sich auf den Sonnenstein, dann auf Villon, auf mich und auf den maskierten Großmeister. Frollo suchte nach einer Antwort, einer Lösung, einer Erklärung.
    »Habe ich mich in Euch geirrt, Bruder Frollo?« erscholl die laute Stimme des Großmeisters. »Ich habe Euch vertraut. Worum wir und unsere Brüder seit Jahrhunderten gerungen haben, liegt in Euren Händen, und plötzlich zweifelt Ihr. Euer Glaube an die richtige Sache muß auf sehr wackligen Füßen stehen!«
    »Nein, Vater des Erkennens«, rief Frollo, sichtlich froh, eine Entscheidung getroffen zu haben. »Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich werde die verfluchten Seelen retten!«
    Mit der Linken nahm er den Sonnenstein von der Schale und drehte sich um, wollte seinen Weg fortsetzen. Da sprang Villon ihn an und hielt seinen linken Arm fest.
    »Nicht, Frollo. Hört auf die Worte meines Sohns! Er hat wahr gesprochen.«
    »Euer Sohn?« In Frollos Augen blitzte es auf, dann brummte er: »Und wenn schon. Lasst

Weitere Kostenlose Bücher