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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Spiegelbild von Villons Kopf wirkte, lag in Colettes Schoß gebetet. Auch sie war abgemagert und schmutzig, ihre Kleidung bestand nur noch aus zerrissenen Fetzen.
    Der Anblick wollte mir das Herz zerreißen, und doch spürte ich zugleich ein kleines Glücksgefühl. Zumindest lebte Colette, und das allein war für mich ein Grund zum Jubeln. Ihre Augen blickten auf mich herunter, erkannten mich, weiteten sich. Gleichzeitig öffnete sie die rissigen Lippen, wollte mir etwas zurufen. Aber entweder brachte sie keinen Laut hervor, oder ihre Worte wurden vom Zischen und Ächzen der Maschine und vom nicht enden wollenden Gerassel der noch immer über uns entlangziehenden Würfelketten verschluckt.
    Unwillkürlich war ich unter dem Käfig stehen geblieben, auch wenn es aussichtslos schien, die Geliebte zu erreichen. Keine Treppe, keine Leiter führte zu ihr. Der Käfig hing an einer Kette, die über eine Rolle zu einer Winde führte. Die ganze Konstruktion war an einem schwenk-baren Balken aufgehängt. Ihn hätte ich herumschwenken müssen, um den Käfig von dem Wasserbecken zu entfernen. Kaum war mir der Gedanke gekommen, da drängten mich die Dragowiten schon weiter, fort von der Geliebten, die ich längst verloren hatte.
    Über eine brüchige Treppe aus Römertagen ging es hinauf zu einer in den Fels geschlagenen Kapelle. Ihr säulengestütztes Vordach, das in einem mit zahlreichen Ornamenten geschmückten Giebel auslief, wies bedenkliche Risse auf. Von hier aus überblickte die steinerne Herrscherin ihren Tempel. Ihr Bild weckte Abscheu und Entsetzen in mir wie wohl in jedem guten Christenmenschen.
    Die Muttergottes saß, vier Klafter groß, auf einem Steinblock und gab ihre linke Brust dem kleinen Jesuskind, nackt wie sie selbst. Um sein Haupt schimmerte eine goldene Gloriole blutrot im Feuerschein. Was dieses vertraute Bild zu einem verdammenswerten Ketzerwerk machte, war das Gesicht der heiligen Jungfrau. Es hatte nichts Menschliches an sich, war das einer Kuh, auf deren Haupt zwei mächtige Hörner sa-
    ßen. Welch ein Frevel! Verhöhnten die Ketzer auf diese Art Unsere Liebe Frau Maria?
    »Isis und Horus«, hörte ich zu meiner Linken jemanden andächtig flüstern. Es war Villon, und jetzt erst begriff ich. Die Figur mit dem Kuhschädel war Isis, die Göttin der Fruchtbarkeit, und der Knabe mit dem leuchtenden Schein über dem Haupt war ihr Sohn Horus, der Gott von Sonne und Himmel. Wie sehr die Statue Abbildern des Jesuskindes mit seiner Mutter ähnelte, war verblüffend. Wäre der Kuhschä-
    del, Symbol des fruchtbaren Rindes, nicht gewesen, hätte die Skulptur auch in der Kathedrale von Notre-Dame stehen können, und ich fragte mich, ob die Übereinstimmung zufällig war oder auf eine tiefere Verbindung zwischen der Göttin der Ägypter und der Muttergottes der Christen hinwies.
    Vier alte Bekannte, wie Frollo im weißen Kreuzmantel und mit umgehängtem Schwert, erwarteten uns vor der Götterstatue: Andry Musnier, Denis Le Mercier, Jacques Charmolue und Gilles Godin. Als der Notar mich erkannte, trat er hastig zwei Schritte vor, musterte mich wie ein Raubtier seine Beute und rief mit sich überschlagender Stimme: »Das ist der Kerl, mit dem der Zölestiner Avrillot vor seinem Tod sprach!«
    »Das ist jetzt nicht mehr von Belang«, erwiderte Frollo kühl. »Hättet Ihr ihn eher erkannt, Bruder Godin, wäre uns viel Mühe erspart geblieben. Er war, ohne es zu wissen, der Hüter des Sonnensteins.«
    »Ich habe ihn doch in ganz Paris gesucht!«

    »Ihr müßt ein paar Mal dicht an ihm vorübergegangen sein, als Ihr mich in Notre-Dame besuchtet. Er ist nämlich niemand anderer als mein Kopist Armand Sauveur.«
    »Der da?« Godin verschluckte sich fast. »Beim Vater der Guten Seelen, hätte ich das geahnt!«
    »Monsieur Sauveur war immer dabei, wie sich zeigt.« Frollo schien belustigt, ein Zug, den ich an ihm kaum kannte. »Wart Ihr etwa auch der Lauscher im Tempel unter Notre-Dame?«
    Ich nickte und fragte: »Habt Ihr das die ganze Zeit gewußt?«
    »Nein, aber geahnt habe ich so etwas.«
    »Eine Zusammenkunft alter Bekannter«, meinte ich. »Fehlt nur noch der närrische Poet Gringoire.«
    »Den werdet Ihr hier vergeblich suchen«, sagte Frollo mit verächtlichem Unterton. »Ich benötigte ihn nicht länger und habe ihn aus meinen Diensten entlassen. Was er tat, tat er für Geld. Hier aber sind nur Männer zu gebrauchen, die bereit sind, für ihren Glauben zu sterben.«
    »Habt Ihr keine Angst vor einem Verrat, wenn

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