Im Schatten von Notre Dame
Götter entstehen!«
»Ah, endlich gelangt Ihr zur Einsicht und stimmt mir bei«, sagte der Großmeister.
»Keineswegs. Wer Epikur richtig liest, erkennt, daß seine Vorstellung von der atomaren Macht Gott und eine göttliche Lenkung der Welt leugnet. So wie Ihr, Mann mit dem verhüllten Antlitz. Ihr gebraucht die Macht der atomaren Transmutation nicht zum Guten. Ihr wollt keine Seelen retten, Ihr wollt sie verdammen, indem Ihr diese Welt zerstört. Die Macht, die Götter erschaffen kann, soll einen einzigen Gott aus dem Gefängnis der Materie befreien: Satan!«
»Soviel Ihr auch redet, Villon, Ihr bringt immer nur dieselben Lügen vor.« Der Großmeister wandte sich an Frollo, der am Fuß der Treppe stehen geblieben war und dem Disput lauschte. »Lasst Euch nicht beirren, Bruder Frollo. Nur zu, vollendet den großen Plan!«
Langsam, vielleicht ein wenig zögernd, schritt Frollo an den Öfen und Kesseln entlang. Ich fragte mich, wann Leonardo endlich etwas unternehmen wollte. Wie beiläufig fingerte er am Riemen seiner Laute herum, bis Charmolue ihn anfuhr: »Was treibst du da, Kerl?«
»Ich will ein Lied singen, wenn’s erlaubt ist. Das scheint mir die rechte Art, in den Tod zu gehen. Und wenn’s wahrhaftig die Rettung unserer Seelen sein sollte, ist ein fröhliches Lied erst recht angebracht.«
Der Prokurator blinzelte unentschlossen und wandte sich zum Groß-
meister um.
Der sagte: »Lasst ihn ruhig singen. Vielleicht muß der Abtrünnige sich Mut machen, weil er ahnt, daß die Rettung seiner Seele so ungewiss ist wie das Glück beim Würfelspiel.«
Ich beobachtete Frollo, der eine hölzerne Leiter erklomm, und konnte nicht fassen, daß Leonardo in diesem Augenblick Muße zum Singen fand. Doch kaum hatten seine Finger in die Saiten gegriffen, verstand ich ihn. Er entlockte dem Instrument neben den Tönen kleine Geschosse, stählerne Nadeln, die das Maul des Pferdekopfes ausspie.
Die erste Nadel fuhr Charmolue in die Brust. Der Prokurator riß die Augen auf vor Erstaunen und Schmerz. Seine massigen Hände griffen an die Brust, wie um den Pfeil aus der Wunde zu ziehen, aber das Geschoß war so klein, daß es unter dem Mantel verschwunden war. Dennoch war seine Wirkung groß, durch Gift, wie ich später erfuhr. Charmolue sackte auf die Knie, und blutiger Schaum troff von seiner hängenden Unterlippe. Die gurgelnden Laute, die er ausstieß, waren der rechte Gesang zu Leonardos Todesmelodie.
Ein zweites Geschoß traf den Universitätsbuchhändler Musnier und warf ihn neben Charmolue zu Boden, während Leonardo rief: »Die Rauchkugeln, rasch!«
Ich war so verwirrt, daß ich zögerte. Nicht so Tommaso. Er nahm die Tonkugel aus seinem Bauchkasten und schleuderte sie unter die bewaffneten Dragowiten. Die irdene Schale zerplatzte und ebenso die Trennwände der inneren Kammern. Die Stoffe, die Leonardo in die Kugel gefüllt hatte, vermischten sich, und sofort hüllte eine dicke grauschwarze Rauchwolke die Dragowiten ein. Hustend, würgend und tastend stolperten sie mit tränenden Augen umher.
Als weitere Dragowiten ihren Brüdern über die Steintreppe zu Hilfe kommen wol ten, löste ich mich aus meiner Starre und warf die zweite der beiden faustgroßen Rauchkugeln, die Leonardo gefertigt hatte. Mit dem gleichen Erfolg: Die Dragowiten stolperten und stürzten von der Treppe. Der Rauch stank noch ärger als der Dunst der Weltmaschine und biss auch in unseren Augen. Tränen rannen mir über die Wangen.
Der Großmeister, Godin, Le Mercier und der hagere Templer, der eben den Sonnenstein gebracht hatte, zogen ihre Schwerter und drangen auf uns ein. Noch ein Schuß aus Leonardos wunderlicher Laute, und der Hagere fiel getroffen vor die Füße seiner Gefährten.
Godin sprang über den Gefallenen hinweg und erhob das Schwert gegen Leonardo. Offenbar waren die Giftnadeln aufgebraucht. Der Italiener riß sein Instrument hoch, um Godins Schlag abzufangen. Ich sprang ihm bei, zog den versteckten Dolch aus dem Geheimfach in meinem Bauchkasten und rammte ihn Godin bis zum Heft in die Seite. Es kostete mich keine große Überwindung, ich brauchte nur an den unglückseligen Zölestiner zu denken.
Ein Zucken lief über das fleischige Gesicht des Notars, und er stammelte: »Ich hätte dich umbringen sollen …«
»Dazu hättest du ihn finden müssen, Dummkopf!« knurrte Leonardo und hieb ihm die Laute auf den Hinterkopf. Das brachte den kräftigen Mann endgültig zu Fall. Zuckend und stöhnend lag er vor uns, ein Bündel
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