Im Schatten von Notre Dame
Gringoire käuflich ist?« fragte ich.
»Er weiß, wie wir mit Verrätern verfahren. Ich schätze, unser Poet schläft lieber ruhig, als Nacht für Nacht mit einem Besuch der Maulwürfe zu rechnen. Zudem hat es bald keine Bedeutung mehr, was Gringoire tut oder läßt, so wie das Verhalten jedes einzelnen Menschen ohne Bedeutung sein wird.«
»Weil es dann keine Menschen mehr gibt«, ergänzte eine dumpfe Stimme gerade in dem Augenblick, als die Würfelketten über den Wasserbecken zum Stillstand kamen und ihr beständiges Rasseln mit leisem Klirren erstarb. Aus dem Schatten hinter der Isisstatue trat ein unheimliches Wesen, bei dessen Anblick Tommaso und Atalante Laute der Überraschung ausstießen: der Herr dieser Unterwelt.
Kapitel 5
Ananke!
Auch ich hätte vielleicht einen erschrockenen Ruf von mir gegeben, wäre mir der Anblick nicht bekannt gewesen. Das Gesicht aus Metall, das im Feuerschein wirkte wie zerschmelzendes Eisen.
Die Smaragdaugen, die das Licht als grüne Flammenstrahlen zu-rückwarfen. Wie damals trug der Großmeister den weißen Templer-mantel und hielt in der Rechten das Zeichen seiner Würde, den Abakusstab. Es war eine Wiederbegegnung, auf die ich gern verzichtet hätte.
Ein Raunen drang an meine Ohren, es kam von Leonardo: »Beschäftigt Frollo und die anderen Irren! Ich bin bald soweit.«
Leonardo stand mir am nächsten, und nur ich schien seine leisen Worte vernommen zu haben. Ich wußte, daß wir noch ein paar Überraschungen für die Dragowiten auf Lager hatten, aber ich bezweifelte, daß uns das gegen ihre Übermacht helfen würde.
»Wer seid Ihr?« herrschte ich den Maskierten an. »Warum verbergt Ihr Euer Gesicht hinter einer Maske?«
»Damit man mich nicht erkennt, du Tölpel. Was dachtest du?«
Der Großmeister klang eher belustigt als verärgert. Aufgrund des hohlen, dumpfen Klangs, den die Maske seiner Stimme verlieh, konnte ich es nicht genau einschätzen. Vergebens bemühte ich mich deshalb auch, die Stimme einem von König Ludwigs engsten Beratern zu-zuordnen. Seine Worte hatten einen metallischen, mechanischen Hall, als sei der Großmeister ein Teil der riesigen Maschine.
»Vielleicht versteckt Ihr Euch, damit man das Böse in Eurem Antlitz nicht sieht«, entgegnete ich. »Eure Männer könnten erkennen, daß sie dem Verführer und Verderber dienen, nicht dem Erlöser!«
Jetzt lachte er laut, wenn auch nicht aus Erheiterung, sondern ver-
ächtlich. »Mit solchem Gerede machst du uns nicht irre, Mann. Satan mag dir noch so viele Lügen in den Mund legen, es ist vergebliche Mühe.«
»Eure Worte sind die Satans!« schrie ich.
Der Großmeister hatte genug von mir, wandte sich um und winkte einen mir unbekannten Mann im weißen Mantel aus dem Schatten.
Mit beiden Händen trug der auffallend hagere Templer eine silberglänzende Schale, in der jener Smaragd lag, der angeblich aus Luzifers Krone stammte. Der Sonnenstein! Er leuchtete nicht, sah nach gar nichts Besonderem aus.
Und doch verneigte sich der Großmeister vor dem grünen Stein und sprach: »Die Zeit des Leidens und der Zweifel ist vorbei. Nur noch wenige Atemzüge, und die Menschheit wird vom Fluch des Fleisches erlöst sein. Bruder Frol o, Eure Verdienste sind groß. Euch gebührt die Ehre, den Sonnenstein an seinen Platz in der Weltmaschine zu bringen.«
»Jetzt?« entfuhr es Villon. »Ihr wollt es jetzt tun?«
»Warum nicht, die Weltmaschine ist schon lange bereit«, erwiderte ruhig der Großmeister. »Wir haben nur noch auf den Sonnenstein gewartet und auf den Jahrmarkt, dessen Trubel die Brüder von Saint-Germain-des-Prés von uns ablenkt. Ihr seid also genau zur rechten Zeit erschienen, Villon. Vielleicht ist der Vater der Guten Seelen mit Euch und Euren Abtrünnigen. Dann werden auch eure Seelen zurückkehren ins Paradies des ewigen Lichts.«
Er gab Frollo einen Wink, und der Archidiakon nahm die Schale mit dem Smaragd an sich, ging an uns vorbei die Treppe hinunter.
Villon starrte ihm nach und keuchte: »Die Kraft der Zerstörung wird sich entfalten, wenn die Transmutation der Atome vollzogen wird!«
»Nicht die Kraft der Zerstörung, sondern die der Erlösung«, erwiderte der Maskierte. »Demokrit hat erkannt, daß im Zusammenstoß der Atome ein Atem von beseelter Kraft wohnt, und schon Cicero sprach in diesem Zusammenhang von der Seelenbildung.«
»Wollt Ihr nicht auch noch Epikur nennen?« fragte Villon scharf. »Er behauptet, der Zusammenstoß der Atome lasse Seelen, Welten, ja sogar
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