Im Schatten von Notre Dame
zugeschnitten wie ein Messgewand, aber vom selben leuchtenden Gelb wie die Röcke der Pariser Straßenhuren.
Mehr Mitleid schien das Schicksal dem Buckligen nicht zu gönnen.
Erneut erhob sich schadenfrohes Geheul, und am lautesten krakeelte Jehan Frollo. Das Volk war nicht gewillt, die Stunde verstreichen zu lassen, ohne seinen Spaß mit dem Wehrlosen zu haben. Die wü-
stesten Beschimpfungen prasselten auf den reglosen Berg aus Fleisch und Muskeln nieder, gefolgt von faulen Eiern, verdorbenem Obst und schließlich auch Steinen. Was die Bisse der neun Katzenschwän-ze nicht vermocht hatten, gelang schließlich den zahllosen Insekten-stichen des Pöbels. Das Zyklopenauge öffnete sich und schoß wütende Blitze in die Menge. Die wäre unter anderen Umständen angsterfüllt zurückgewichen, doch Ketten und Stricke, die den Eindruck dieser Geste schwächten, stärkten des Volkes feigen Mut um so mehr.
Der Bucklige zerrte wieder an seinen Fesseln. Das schwere Rad schaukelte bedenklich, hielt aber letztlich stand. Quasimodo blieb nichts anderes übrig, als die Beschimpfungen und den Hagel aus Abfall und Steinen über sich ergehen zu lassen, wobei die Schimpfreden ihn ob seiner Taubheit wohl wenig störten. Er schien sich wieder in sein Schicksal zu ergeben und stieß nur ab und an einen tiefen Seufzer aus, der die Fleischmassen seines ungeschlachten Leibes erbeben ließ.
Nach geraumer Zeit weitete sich das halbgeschlossene Auge unerwartet, und statt strafender, hassender Blicke sandte es ein hoffnungsvolles Leuchten aus. Auf dem verunstalteten Gesicht lag so etwas wie ein Lächeln, ein Ausdruck von Glück, von Hoffnung. Ich wandte mein Haupt, um dem Blick des Einäugigen zu folgen, und entdeckte einen schwarzgewandeten Reiter, der auf einem Maulesel aus der Richtung der Notre-Dame-Brücke kam. Wohl von Neugier getrieben, lenkte der Schwarze sein Tier durch die Menge, die ihm ehrfürchtig Platz machte.Dom Claude Frollo hielt das Maultier an und erwiderte ernst den glückseligen, zärtlichen Blick des Glöckners. Gestern hatte Quasimodo auf diesem Platz den Archidiakon gegen den wütenden Pöbel verteidigt, heute erwartete er von seinem Herrn Vergeltung. Der aber riß sein Tier grob am Zügel herum und trabte davon, daß es aussah wie eine Flucht. Hinter ihm schloß die Menge ihre Reihen, und Claude Frollo verschwand zwischen den ersten Häusern der Rue de la Tanne-rie.Der junge Bruder Frollo verhöhnte ihn, der ältere verriet ihn. Quasimodos Gesicht versteinerte, doch tief in seinem Innern mußte es noch einen Hauch von Hoffnung geben, den fast, aber nicht gänzlich verschütteten Glauben an das Gute im Menschen, an Mitleid und Erbarmen. Mit der winselnden Stimme eines kleinen Kindes bettelte er immer wieder um ›was zu trinken‹.
Für die Menge nur ein neuer Grund zum Spott. Sie schlugen ihm feuchte Lappen um die Ohren und setzten ihm leere Krüge vor oder zerbrochene. Oder gefüllte Krüge, die zu weit entfernt auf dem Prangerblock standen, mochte sich der Gefesselte auch noch so recken. Ich wollte mich an den Pranger herandrängen, um einen randvollen Krug den ein offenherzig gekleidetes Weib unter wildem Kichern auf der Rand des Würfels gesetzt hatte, in Quasimodos Reichweite zu schieben. Ein Stockhieb zerschlug das irdene Gefäß vor meiner Nase, und das Wasser vermischte sich mit dem getrockneten Blut dieser und vieler anderer Folterstrafen, das die Sandsteinplatten befleckte.
»Was zu trinken!«
Unendlich langsam rieselte der rote Sand.
Als sich das Meer von Menschen aufs neue teilte, glaubte ich schon Dom Frollo sei zurückgekehrt. Aber es war eine junge Frau mit einem Tamburin in der Hand, die, gefolgt von einer weißen Ziege, zum Pranger ging und die ›Leiter‹ erklomm.
»La Esmeralda!« flog es wie ein Chorgesang über den Platz. Wich die Menge vor der Schönheit zurück, vor der Magie der Ägypterin oder bloß aus Überraschung? Es blieb sich gleich. Unangefochten konnte die Zigeunerin die grobe Stiege erklimmen, und selbst bei diesem pro-fanen Akt bewegte sie sich bezaubernd graziös.
Angst huschte über Quasimodos Antlitz. Das Auftauchen des Mädchens konnte nach seiner Vorstellung nur eins bedeuten: Rache für den gestrigen Anschlag. Aber la Esmeralda war nicht gekommen, um ihn zu schlagen und zu verhöhnen. Furchtlos beugte sie sich über den Unglücklichen, löste eine Kürbisflasche von ihrem Gürtel, entstöpselte sie und setzte den Flaschenhals an seine rissigen Lippen.
Zur
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