Im Schatten von Notre Dame
war, davon.
Kaum hatte ich mich mit einem großen Tuch trockengerieben und meine neuen Kleider übergezogen, baute sich Maître Aubert mit zwei kräftigen Gehilfen vor mir auf. Der eine Badeknecht hielt drohend ein großes Schermesser in der Hand, der andere einen eisernen Feuerhaken.
»Du bist also der mit der Muschel«, sagte der Bader, und ich zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was du hier willst, aber eins weiß ich sicher: Wenn du mein Badehaus noch einmal betrittst, ver-koch ich dich zu Seife. Muschelbrüder sind hier nicht erwünscht!«
Der drohend erhobene Feuerhaken und die scharfe Klinge des Schermessers, die dicht vor meinem Gesicht die Dampfschwaden durchschnitt, verliehen Maître Auberts Worten gehörigen Nachdruck. Also verließ ich das Badehaus schleunigst. Allerdings war der Widerwille des Baders gegen meine Anwesenheit nicht so groß, daß er seinen und Toinettes Lohn vergessen hätte, auch nicht den für das ›Reiben‹.
Auf der Straße fror ich, obgleich die Sonne noch nicht untergegangen war. Der frische Januarwind war etwas anderes als die schwülen Dämpfe in der Badestube. Vielleicht waren sie Maître Aubert und den Seinen zu Kopf gestiegen. Gab es nicht die Theorie, zu häufiges Baden weiche Körper und Geist auf? Mochte sein, das galt nicht nur für Ba-dende, auch für die Bader. Oder tranken sie von morgens bis abends ihren heißen Hypokras? Ich konnte mir keinen Reim auf die Muschel-geschichte machen. Aber da Paris mich in den wenigen Tagen meines Hierseins schon mit allerlei Seltsamkeiten überhäuft hatte, maß ich dem Vorfall keine große Bedeutung bei. Vielleicht war dies einfach Auberts Art, die Badezuber für neue Gäste zu leeren.
Ich beschritt die Rue de la Pelleterie in östlicher Richtung und schlug jenseits der Notre-Dame-Brücke den kürzesten Weg zur Kathedrale ein. Mein neuer Dienstherr würde mich schon erwarten. Als ich das große Gotteshaus in den dunkler werdenden Himmel ragen sah, verharrte ich unschlüssig, blickte nach rechts zu den Gebäuden des Hôtel-Dieu und änderte meine Richtung.
Aus welchem Grund ich zum Hospital ging anstatt zur Kathedrale? Vielleicht erschien mir die Aussicht, mit dem finsteren Archidiakon und seinem verunstalteten Glöckner unter einem Dach zu schlafen, nicht sonderlich reizvoll. Vielleicht wollte ich das Versäumte nach-holen und einen Teil von Frollos Vorschuss für eine Dankesspende an die Augustinerinnen verwenden. Bestimmt aber hoffte ich, der gesprä-
chigen Schwester Victoire noch mehr Einzelheiten über Claude Frollo und Quasimodo zu entlocken.
Obwohl sich allerlei Volk auf dem Domplatz herumtrieb, fühlte ich mich verfolgt. Wie von einem Schatten, der mir anhing, aber nicht greifbar war. Zu der Kälte des auffrischenden Abendwinds gesellte sich ein innerer Schauer. Bildete ich mir das nur ein?
Um das herauszufinden, trat ich blitzschnell in eine schmale Gasse zu meiner Rechten und drückte mich hinter einen Mauervorsprung.
Mit angehaltenem Atem wartete ich ab und schob den Kopf gerade so weit über die Mauer, daß ich den Eingang der Gasse erspä-
hen konnte. Meine schweißfeuchten Hände klebten an dem brüchigen Gestein.
Schon glaubte ich, mich getäuscht zu haben, und stieß den angehal-tenen Atem aus. Da verdunkelte ein Schatten – mein heimlicher Begleiter? – die Öffnung der Gasse zum Domplatz. Ich traute meinen Augen kaum: Der dürre Kerl mit dem bärtigen, schartigen Gesicht war Colin. Colin der Bettler, Colin der Dieb!
In der Erregung hatte ich wohl zu fest gegen das alte Mauerwerk gedrückt. Der trockene Mörtel hielt das Gestein kaum noch, und ein faustgroßer Brocken krachte auf das zertretene Pflaster. Mehr brauchte es nicht, um meinen Verfolger zu warnen. Von einem Augenblick auf den anderen war er verschwunden.
Ich sprang auf, rannte hinaus auf den Domplatz und blickte mich nach allen Seiten um. Von Colin keine Spur. War er in eine der anderen Gassen getaucht? Hielt er sich in der bunten Menge verborgen, die den Platz vor der Kathedrale füllte? Unmöglich, ihn zwischen all den Klerikern, Gläubigen, Händlern und Bettlern auszumachen. War er überhaupt dagewesen? Oder hatte auch ich dem heißen Hypokras zu kräftig zugesprochen?
Zweifelnd setzte ich meinen Weg fort und klopfte an die verschlossene Pforte des Hospitals. Ein triefäugiger Pförtner öffnete und musterte mich wie einen Störenfried.
»Ich wurde letzte Nacht hierher gebracht«, erklärte ich. »Nun möchte ich mich
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