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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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bei Schwester Victoire mit einer kleinen Spende bedanken.«
    Sein feuchter Blick wollte mich schier durchdringen. »Bei Schwester Victoire?« vergewisserte er sich, als sei er schwerhörig.
    »Ja, sie hat mich gepflegt.«
    »Ihr seid das also«, brummte der Triefäugige. Er ließ mich ein, verriegelte das Portal wieder und übernahm die Führung.
    »Bringt Ihr mich zu Schwester Victoire, Bruder Portarius?«

    »Hm?« Er blieb kurz stehen, kratzte sich den fast kahlen Schädel und nickte verlegen. »O ja, natürlich, ich führe Euch zu ihr.«
    Wider Erwarten ging es nicht in einen Krankensaal. Der Pförtner öffnete eine schmale Tür, die in einen mit Tischen und Bänken aus-gestatteten Raum führte. Auf einem Tisch flackerte eine Talgfunzel und warf ihr tanzendes Licht auf vier Gesichter. Eins gehörte einer alten, runzligen Augustinerin. Die anderen drei Anwesenden waren Männer, zwei kräftige Kerle und ein kleiner, schmaler, so dürr wie Colin.
    »Das ist der Strolch!« krähte der Bruder Portarius mit sich überschlagender Stimme und versetzte mir einen Stoß in den Rücken, daß ich in den Raum taumelte. »Er ist der Mörder!«
    Ich stolperte über eine Bank und schlug mit der Stirn gegen einen Tisch. Der scharfe Kopfschmerz vom Morgen kehrte zurück. Viel Schonung war meinem Schädel wirklich nicht vergönnt.
    Bevor ich mich erheben konnte, waren die beiden kräftigen Kerle auf einen Wink des Kleinen über mir. Sie packten mich, rissen meine Arme auf den Rücken und mich selbst so ruckartig in die Höhe, als wollten sie mich in einem Schwung zu den himmlischen Heerscharen befördern. Jetzt erst nahm ich war, daß die beiden den violetten Waffenrock der Scharwache trugen.
    Mein Herz sackte in die tiefste Hölle. Ich dachte an den armen Maît-re Avrillot, der doch in Wahrheit einen gnädigen Tod gehabt hatte. Ich selbst würde auf dem Grève-Platz am Galgen baumeln, noch dazu für einen Mord, den ich nicht begangen hatte.
    »Du also bist der Mörder?« fragte der kleine Mann, dem die beiden Scharwächter gehorchten, obgleich er in seinem zerschlissenen Mantel höchst unscheinbar wirkte.
    »Nein, ich habe damit nichts zu tun!« stieß ich hervor.
    »Was machst du hier?« fragte der Kleine mit einer Stimme, die das Fragen und Befehlen gewöhnt war.
    »Ich wollte zu Schwester Victoire, um ihr eine Spende für das Hospital zu geben. Sie hat mich heute morgen gepflegt.«
    Ein fragender Blick des Kleinen, und der Bruder Portarius bestätigte meine Worte. Der Kleine fuhr sich durch die dunklen Locken und wies die Sergeanten der Scharwache an, mich loszulassen.
    »Warum?« fragte die alte Frau.
    »Weil der Mörder bestimmt nicht nach Schwester Victoire fragt, ehrwürdige Mutter Oberin«, erklärte der Kleine.
    Ich verstand das zwar nicht, freute mich aber, daß er so dachte.
    »Bringen wir ihn zu Schwester Victoire«, fuhr der Kleine fort. »Vielleicht wird sich dann einiges klären.«
    Der Pförtner stammelte: »Ich hielt ihn für den Mörder, weil er nach Schwester Vic …«
    Eine knappe Handbewegung der Mutter Oberin brachte ihn zum Schweigen, und ein weiterer Wink verwies ihn zurück auf seinen Posten.
    Ich betrat mit den drei Männern und der Oberin den Krankensaal, in dem ich am Morgen zu mir gekommen war. Inständig hoffte ich, daß ein Gespräch mit der gutmütigen Schwester tatsächlich alles klä-
    ren würde, wenn ich mir auch nicht vorstellen konnte, wie die Augustinerin mich von dem Verdacht befreien sollte, der Mörder des Zölestiners zu sein.
    Nirgends konnte ich Schwester Victoire entdecken. Dafür sah ich zwei weitere Schwarwächter vor einem der baldachinüberspann-ten, verhängten Betten stehen. Schwestern wie Kranke warfen ihnen scheue, fast ängstliche Blicke zu. Nein, nicht den Sergeanten, wie ich erkannte, sondern dem Bett, das unser Ziel war.
    »Bitte, Monsieur, hier ist Schwester Victoire«, sagte der kleine Mann und zog den Vorhang mit einem kräftigen Ruck beiseite.
    Die füllige Gestalt der Schwester lag auf dem Bett, reglos, wie schlafend, wenngleich die Augen offen waren. Sofort erkannte ich das Voll-mondgesicht wieder, auch wenn es nicht mehr rosig schimmerte. Es war bleich. Totenblass. Die Augen blickten starr zum Betthimmel hinauf, so glasig und leer wie gestern die des Zölestiners, nachdem er sein Leben in meinen Armen ausgehaucht hatte. Im scharfen Kontrast zu dem bleichen Antlitz stand der rote Hals. Blut war in großer Menge ausgetreten, verursacht durch einen tiefen Schnitt.

    Der

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