Im Schatten von Notre Dame
Rückseite mit einem einfachen Gittermuster und auf der Vorderseite mit bunter Malerei versehen. Sie zeigte eine Hand, die einen knorrigen Stab nach oben reckte, und daneben die Zahl X.
»Eine Spielkarte«, stellte ich fest, »die Stabzehn. Und was hat das zu bedeuten?«
»Das wisst Ihr nicht, Monsieur Sauveur?«
»Würde ich sonst fragen?«
»Aber Ihr wisst, daß die Karte etwas bedeutet!« rief Falcone.
»Da die Karte im Mund der Toten steckte, muß sie wohl etwas bedeuten.«
Nun lächelte der Leutnant wieder. »In der Tat. Zum Glück kennt die Mutter Oberin sich in der geheimen Bedeutung der Karten aus. Er-klärt es Monsieur Sauveur bitte, ehrwürdige Mutter.«
»Eine Karte hat mehrere Bedeutungen«, sagte die Oberin mit starrer Miene. »Bei der Stabzehn sind es drei: Hindernis, Verräter sowie Anfang und Ende.«
»Woraus wir folgern können«, riß Falcone wieder das Wort an sich,
»daß der Mörder uns folgendes mitteilen wollte: Mit der Tötung von Schwester Victoire hat er ein Hindernis aus dem Weg geräumt, nämlich eine Verräterin zu ihrem verdienten Ende gebracht.«
Die Mutter Oberin nickte. »So ist es.«
Falcone warf ihr einen schnellen Seitenblick zu. »Übrigens erstaunlich, daß Ihr Euch so gut mit den Karten auskennt, ehrwürdige Mutter. Sagt die Kirche nicht, die Karten seien Teufelswerk?«
»Um das Werk des Teufels zu verdammen, muß man es kennen«, erwiderte die alte Augustinerin ungerührt.
»Eine lobenswerte Ansicht«, meinte der Leutnant. »Schade, daß die Kirche sie sich nicht allgemein zu eigen macht.«
»Aber was hat Schwester Victoire verraten?« warf ich ein. »Und wem?«
»Gut gefragt«, sagte Falcone lächelnd. »Und die Antwort kennt Ihr nicht?«
»Weshalb ich?«
»Habt Ihr Euch heute morgen nicht angeregt mit der Toten unterhalten?«
»Nicht über wichtige Dinge.«
»Und um welche unwichtigen Dinge ging es?«
Es lag mir fern, meinen neuen Dienstherrn in Verruf zu bringen, deshalb antwortete ich nach kurzem Zögern: »Wir sprachen ganz allgemein über Paris. Ich kenne die Stadt noch nicht sehr gut.«
»Dann muß Schwester Victoire zu jemand anderem etwas gesagt haben, das sie besser für sich behalten hätte.«
»Und das soll genügen, um ihren Tod zu veranlassen?« rief ich erschrocken.
»Worte haben schon so manchem den Tod gebracht«, sagte die Mutter Oberin leise.
»Aber wozu die Spielkarte?« fragte ich. »Warum gibt der Mörder diesen Hinweis?«
»Gerade darauf kam es ihm an«, erwiderte Falcone. »Der Mord soll andere abschrecken, ihren Mund zu weit aufzusperren. Verräter finden ein Ende wie Schwester Victoire. Das ist die Botschaft dieser Tat. Oder, besser ausgedrückt: Die Tat ist die Botschaft.«
»Verzeiht, wenn ich mich einmische«, sagte die Mutter Oberin. »Ich würde Schwester Victoire gern waschen und für die Totenwache her-richten lassen.«
Falcone nickte. »Selbstverständlich, ehrwürdige Mutter.«
Die Oberin ließ zwei Knechte mit einer Bahre kommen, auf die Schwester Victoire mit Hilfe der Sergeanten gelegt wurde. Als die Knechte den Leichnam forttrugen, zeigte ein Sergeant auf das zerwühlte Laken und rief den Leutnant herbei. Auch ich trat näher und sah etwas, das bislang vom Gewand der Toten verdeckt gewesen war: eine rote Zeichnung im Leinen.
»Das hat Schwester Victoire gemalt«, stellte Falcone fest und schien zum ersten Mal überrascht. »Im Todeskampf, mit ihrem Blut.«
Es sah aus wie ein Kreis, ein Ring. An einer Stelle sehr dick und aus-gefranst, wurde die Linie dünner und dünner.
»Was stellt das dar?« fragte der Sergeant, der den Fund gemacht hatte.»Ich weiß es nicht.« Falcone sah erst die Mutter Oberin und dann mich an. »Habt Ihr eine Erklärung, ehrwürdige Mutter? Oder Ihr, Monsieur Sauveur?«
Ich hatte keine, und die Äbtissin sagte: »Vielleicht hat es gar nichts zu bedeuten. Es könnte zufällig entstanden sein, als Schwester Victoire mit dem Tod rang und ihre Bewegungen nicht mehr beherrschte.«
»Möglich, aber unwahrscheinlich. Dann wäre es nicht solch ein geschlossener Kreis. Wie auch immer, wir werden das Laken mitnehmen. Es könnte noch wichtig werden.« Falcone wandte sich wieder mir zu, mit einem listigen Ausdruck im faltigen Gesicht. »Da wir gerade bei wichtigen Dingen sind, Monsieur Sauveur: Wo habt Ihr den Nachmittag verbracht?«
Kapitel 8
Der rote Drache
Auf dem mittlerweile dunklen Platz zwischen Hôtel und Kathedrale blieb ich stehen und sog die kühle Luft tief in meine Lungen.
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