Im Schatten von Notre Dame
Tod kitzelte meine Nase mit süßlichem Duft, und Ekel überwältigte mich. Ich fiel auf die Knie und übergab mich, bis nichts mehr von Hammelfleisch und Roquefort in meinem Magen war, höchstens noch ein wenig Hypokras. Die Mutter Oberin winkte eine Novizin herbei und befahl ihr, mein Erbrochenes aufzuwischen.
»Wer …«, krächzte ich mit rauer Stimme, als ich mich an einen Bettpfosten hochzog. »Warum?«
»Genau das sind die beiden Fragen, die ich mir auch stelle«, sagte der kleine Mann mit dem schwarzen Lockenhaar und lächelte unan-gemessenerweise. »Die Beantwortung der zweiten Frage führt hoffentlich zur Erhellung der ersten. Leider stehen bislang noch beide offen.
Vielleicht könnt Ihr mir helfen, ein wenig Licht in die Sache zu bringen.«
»Wer seid Ihr?« fragte ich teils aus ehrlichem Interesse, teils um Zeit zu gewinnen.
Ich mußte die Lage überdenken. Daß es hier nicht um den Tod des Zölestiners ging, erleichterte mich. Daß die gute Schwester Victoire auf so grausige Weise aus dem Leben geschieden war, warf allerdings einen großen Schatten auf meine Erleichterung.
»Oh, Verzeihung.« Der Kleine lächelte wieder und deutete eine spie-lerische Verbeugung an. »Mein Name ist Piero Falcone. Ich bin Kriminalleutnant am Châtelet und mit der Untersuchung des Falles betraut.«
»Ein seltsamer Name«, murmelte ich.
Der Leutnant setzte eine entschuldigende Miene auf. »Mein Vater stammt aus Sizilien. Und Ihr? Wie heißt Ihr? Und wer seid Ihr, Monsieur?«
»Armand Sauveur de Sablé«, antwortete ich lahm, noch immer im Bann des unvermuteten Todesfalls. Obwohl der Anblick gräßlich war, vermochte ich den Blick nicht von dem blassen Gesicht und dem roten Hals der Augustinerin zu wenden.
»Aus Sablé an der Sarthe?«
Ich nickte.
»Und Euer Beruf?«
»Kopist.«
»Wo arbeitet Ihr?«
»In Notre-Dame.«
Falcone warf mir einen überraschten Blick zu. »Was gibt es dort zu kopieren?«
»Noch weiß ich es nicht. Ich war gerade auf dem Weg, meine Stellung bei Dom Frollo anzutreten.«
»Oh, beim Archidiakon.« Falcone schien beeindruckt.
»Dom Frollo war heute morgen im Hospital«, sagte die Mutter Oberin. »Es heißt, er habe mit Schwester Victoire gesprochen.«
»Das stimmt«, bestätigte ich. »Er kam, um mir die Stelle des Kopisten anzubieten. Kurz darauf verließ ich das Hospital, und seitdem habe ich Schwester Victoire nicht mehr gesehen.«
»Sie starb am Nachmittag«, erklärte der Kriminalleutnant. »Die Mildtätigkeit brachte ihr den Tod.«
Ich verstand ihn nicht und sagte es.
»Schwester Victoires Mörder muß ein Bettler gewesen sein, der nun verschwunden ist«, erläuterte Falcone. »Er wurde völlig entkräftet an der Pforte des Hospitals gefunden und in dieses Bett gelegt. Schwester Victoire kümmerte sich um ihn. Danach sah man sie nicht mehr. Als eine Novizin nach dem Bettler sehen wollte und den Vorhang des Bettes zurückzog, lag nicht der Sieche darin, sondern …«
Er zeigte auf die Tote.
»Ein Bettler!« stieß ich hervor und dachte an den rätselhaften Colin.
»Ja«, nickte Falcone. »Warum? Habt Ihr einen Verdacht, Monsieur Sauveur?«
»Nein. Ich dachte nur daran, wie viele Bettler es in Paris gibt. Es müssen Hunderte sein.«
»Tausende«, erwiderte der Leutnant. »In die Hunderte gehen allein die verschiedenen Bruderschaften, zu denen sie sich zusammenge-schlossen haben.«
War es richtig, nicht von Colin zu erzählen? Aber was konnte es nützen? Der Strolch war sowenig fassbar wie ein Schatten. Wie sollte ich erklären, welche Rolle er spielte, welcher Art die Verbindung zwischen ihm und mir war, lag beides doch für mich selbst im dunkeln. Das wenige, was ich wußte, klang so seltsam, daß der Verdacht nur auf mich fallen würde. Falcone mußte denken, ich wolle von mir ablenken.
»Ihr seht so nachdenklich aus, Monsieur Sauveur.« Falcones Ton war beiläufig, doch sein Blick durchbohrte mich.
»Ich frage mich, warum der unbekannte Bettler Schwester Victoire getötet hat. Was gibt es bei einer Nonne zu rauben?«
»Ihre Stimme.«
»Wie kann man eine Stimme stehlen?«
»Indem man die Kehle durchschneidet, so wie der Mörder es hier getan hat.«
Allmählich begriff ich. »Das heißt, er wollte Schwester Victoire zum Schweigen bringen?«
»So sieht es aus, und darauf deutet auch das hier hin. Es steckte im Mund der Toten, als sie gefunden wurde.«
Falcone zog etwas aus der Manteltasche und reichte es mir. Ein ver-knicktes Stück festen Papiers, auf der
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