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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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sich die Bilder der Vergangenheit mit denen der Gegenwart vermischten, als die großen Bauernhäuser von Sablé mit den windschiefen Tavernen der Seine-Insel verschmolzen und das kleine Benedikti-nerkloster, dem ich meine Bildung verdanke, vom Koloss der Pariser Kathedrale verschluckt wurde, durchfuhr mich etwas wie ein aus hei-terem Himmel einschlagender Blitz. Eine Vision? Oder erscheint es mir nur im Rückblick so? Nein, ich glaube, damals schon spürte, ahnte – wußte ich, daß ein Rätsel mit dem anderen verknüpft war. Das Schicksal hatte mich nach Paris, nach Notre-Dame verschlagen, damit ich hier das Geheimnis meiner Herkunft lüftete.
    Eine andere Vergangenheit zog mich in ihren Bann. Ich starrte auf das schmucklose Holzgestell und meinte, das verunstaltete Kind vor mir zu sehen, das sich schreiend auf dem unbequemen Lager wand und nichts anderes erntete als Neugier, Abscheu und Spott. Wie der erwachsene Bucklige, den ich auf dem Grève-Platz am Pranger gesehen hatte. Damals, vor vielen Jahren, hatte Claude Frollo Erbarmen gezeigt, kürzlich auf der Grève nicht. Was war in diesen Jahren geschehen? Hatte Frollo sich so verändert? Oder Quasimodo?
    Das Holzbett knarrte, schien sich gar zu bewegen, als läge ein unsichtbares Kind darin. Es mußte ein heftiger Windstoß gewesen sein.
    Ich fragte mich, ob ich anstelle des jungen Claude Frollo Erbarmen für ein Ungeheuer wie Quasimodo gezeigt hätte, und fand keine Antwort.
    Ich warf die von Odon ausgeschlagene Münze in den Kupferkessel und wandte mich um, der Kathedrale zu. Da sah ich aus den Augenwinkeln auf dem Vorplatz einen Mann, der mich mit Angst erfüllte.

    Rasch, mit klopfendem Herzen und rasendem Pulsschlag, drückte ich mich in den Schatten des Waisenbetts und hoffte, der andere werde an mir vor übergehen, ohne mich zu sehen. Andernfalls mochte es mich den Kopf kosten.

Kapitel 3
    Der Bart ist ab
    Aus meinem dürftigen Versteck heraus beobachtete ich den kräftigen Mann. Ich hatte ihn gleich erkannt, obwohl sein Gesicht zur Hälfte von der Krempe eines federgeschmückten Baretts verborgen wurde. Die rot und blau gefärbten Federn tanzten heiter im Abendwind, aber Gilles Godin wirkte ernst wie immer. Plötzlich, gar nicht weit von mir, blieb er stehen, und ich glaubte schon, er habe mich entdeckt.
    Aber er sah nicht zu dem Waisenbett, hinter dem ich kauerte wie ein Verstecken spielendes Kind. Sein Blick folgte dem schwarzgewandeten Mann, der aus dem Portal des Jüngsten Gerichts trat und die Treppe zum Vorplatz hinabging: Claude Frollo. Ihre Blicke trafen sich, und Frollo hielt auf den Notar zu. Er hatte ihn kaum erreicht, da ging Godin ein wenig in die Knie, neigte das Haupt und sagte leise: »Verzeiht mir und segnet mich. Bittet Gott, daß er mich zu einem guten Ende führe und vor einem schlechten Tod bewahre.«
    Frollo erwiderte ebenso leise: »Gott segne Euch. Er führe Euch zu einem guten Ende und bewahre Euch vor einem schlechten Tod.«
    Ich war erstaunt. Aufgewachsen unter Mönchen, hatte ich eine Menge Segnungen, Gebete und fromme Grüße über mich ergehen lassen müssen, aber solche Worte hatte ich noch nie vernommen. Auch in den religiösen Schriften, die ich bei den Benediktinern von Sablé kopiert hatte, waren sie nicht vorgekommen. Bislang hatte Gilles Godin auf mich nicht den Eindruck eines besonders gläubigen Menschen gemacht. Gespannt verfolgte ich das mit gedämpften Stimmen geführte Gespräch und vergaß darüber sogar meine Furcht vor Entdeckung.
    Godin straffte sich wieder. »Ich habe Euch gesucht, Monseigneur.«
    »Ich wollte gerade aufbrechen.«
    »Eure Untersuchungen betreffend Flamel?«
    Frollo nickte. »Wir müssen uns beeilen. Unsere Feinde ziehen ihre Kreise enger und enger, ich spüre es. Sie sind uns dicht auf der Spur, selbst Notre-Dame ist nicht vor ihnen sicher.«
    »Habt Ihr einen bestimmten Verdacht?«
    »Hier ist nicht Ort und Zeit, darüber zu sprechen. Ich werde es auf der Zusammenkunft der Neun erläutern.«
    »Deshalb komme ich, Monseigneur. Ich soll Euch davon unterrichten, daß die Zusammenkunft vorverlegt ist. Sie findet in fünf Nächten statt, wenn der Tag des Herrn verlischt.«
    »Wer hat das angeordnet?«
    »Der Großmeister.«
    »Dann muß es einen wichtigen Grund geben.«
    »Vielleicht hat der Großmeister einen Plan zur Vernichtung unserer Feinde.«
    So etwas wie ein Lächeln umspielte Frollos schmale Lippen; es entsprang der Abgeklärtheit, nicht der Freude oder der Erleichterung.
    »Auch unsere

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