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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Fluss liegen –, und es stank nach Ratten und Unrat. Kein Mensch weit und breit. Doch ich war sicher, den Ort des Überfalls gefunden zu haben. Sich rasch entfernende Schritte übertönten meinen rasselnden Atem und das Pochen meines Blutes. War ich zu spät gekommen? Nicht nur die Räuber waren verschwunden, auch ihr Opfer.
    Außer dem Weg, durch den ich gekommen war, gab es noch zwei weitere. Ich konnte nicht erkennen, durch welchen die anderen geflohen waren. Ich war nicht einmal in der Lage festzustel en, ob sie die Frau mitgenommen hatten oder ob die Ärmste ihren Peinigern entwischt war. Die Räuber zu verfolgen war nicht meine Angelegenheit und wäre mir wohl auch schlecht bekommen. Al ein hätte ich ihnen die Frau nicht entrei-
    ßen können. War die Unbekannte aber entkommen, konnte ich nichts mehr für sie tun. Mir blieb nichts anderes übrig, als mir durch das Gassengewirr einen Weg zurück nach Notre-Dame zu suchen.
    Als ich den Platz verlassen wollte, trat ich auf etwas Weiches und wäre beinahe ausgerutscht. Neugierig bückte ich mich und sah ein gro-
    ßes Haarbüschel auf dem Boden liegen. Hatten die Räuber der Frau im Handgemenge Haare herausgerissen? Ich kniete mich hin. Das Haar war grau, frei von Blut. Als ich das Büschel aufnahm, klebte es an meiner Hand. Also doch Blut?
    In einem plötzlichen Anfall von Ekel wollte ich die Haare abschütteln. Vergebens, sie blieben an meiner Rechten haften. Und da erkannte ich, was es war: ein Bart. Der graue Bart des Bettlers Colin. Ich kann nicht sagen, daß diese Entdeckung meiner Verwirrung abgeholfen hät-te. War der Bettler so falsch wie sein Bart? Selbst wenn – auch das brachte mich nicht weiter. Ich rollte mein Fundstück zusammen, die mit Leim bestrichene Fläche nach innen, und steckte es unter mein Wams, um es später bei besserem Licht genauer zu untersuchen.
    Das Angelusläuten war längst verhallt, als ich den Weg zu Notre-Da-me fand. Um so mehr erstaunte es mich, das Portal des Jüngsten Gerichts noch offen zu sehen. Licht fiel nach draußen auf ein paar Bewaffnete, die dort Wache hielten. Scharwächter. Vielleicht lag es an ihnen, daß sich nur wenige Bettler auf dem Vorplatz aufhielten. Colin konnte ich nicht entdecken, aber damit hatte ich auch nicht gerechnet. Vor der Treppe blieb ich stehen und überlegte, was der Aufmarsch der Scharwache bedeuten mochte. Hatte Gilles Godin mich etwa doch erkannt und im Châtelet die Wache alarmiert?
    »Da ist er!« rief eine schrille Stimme. »Der dort unten an der Treppe steht, Armand Sauveur!«
    Sofort eilten die Wachen treppab, um die Spitzen ihrer Piken und Schwerter auf mich zu richten. »Leistet keinen Widerstand, dann geschieht Euch nichts!« schnarrte ein bärtiger Sergeant. »Begleitet uns in die Kathedrale!«

    »Ja, bringt ihn her, den Mörder!« Dieselbe kreischende Stimme. Ihr Besitzer sprang im Portal auf und ab wie ein tollwütiger Hund. Ich erkannte die quirlige Gestalt von Jehan Frollo.
    Ein anderer Mann, nicht größer als der Student, drängte sich vor Frollo. Er war älter als der Scholar und hatte nicht blondes, sondern schwarzes Haar. Sein faltiges Gesicht verzog sich zu einem entschul-digenden, fast verlegenen Lächeln, und er befahl den Scharwächtern, ihre Waffen zu senken. »Nehmt ihnen ihr Ungestüm nicht übel, Monsieur Sauveur, aber sie sind auf der Suche nach einem Mörder.«
    »Ein weiterer Toter?« fragte ich.
    Leutnant Piero Falcone nickte mit einer Miene des Bedauerns. »Stabzehn.«
    Er brauchte den Namen nicht zu nennen. Ich wußte auch so, wer sein Leben ausgehaucht hatte.

Kapitel 4
    Zwei stumme Dämonen
    Falcone forderte mich auf, ihm zu folgen. Zwei bewaffnete Sergeanten und Jehan Frollo schlossen sich uns an. Wir durchschritten die Kathedrale, vorbei an Kanonikern und Mesnern, die in kleinen Gruppen zusammenstanden und aufgeregt tuschelten. Finger zeigten auf uns – nein, auf mich! –, und die Erregung der Versammelten steigerte sich. Mehrmals fiel das harte Wort »Mörder«.
    »Hat er einmal Blut geleckt, vergisst auch ein Priester schnell die christliche Nächstenliebe«, kicherte Joannes du Moulin. »Einige möchten dem Henker die Arbeit auf der Stelle abnehmen.«
    Ein Schauer lief mir über den Rücken, und zugleich setzte sich ein dicker Kloß in meiner Kehle fest. Ich faßte an meinen Hals und gab ein würgendes Geräusch von mir.
    »Dazu wird es wohl nicht kommen«, sagte Falcone. »Vermutlich nicht. Falls doch, werden meine Männer ihnen Einhalt

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