Im Schatten von Notre Dame
was Ihr begehrt, zu versorgen.«
»Nein, Odon ist damit beauftragt.«
»Nicht mehr.«
»Seit wann?«
»Seit heute.«
»Weshalb?«
»Weil der Archidiakon ihn angewiesen hat, die Skulpturen in der Kathedrale vom Staub zu befreien.«
»Könnte das nicht jeder andere ebenso erledigen, auch Ihr?«
»Gewiß.«
»Warum hat Frollo dann Euch mit Odons Aufgabe, ihn aber mit einer anderen betraut?«
»Stellt diese Frage Frollo, Maître Sauveur. Mich beschäftigt etwas anderes.«
»Was?«
»Soll ich Euch eine neue Suppe bringen?«
Ich verzichtete auf die Suppe, entschuldigte mich noch einmal bei Gontier und reinigte mich, so gut es eben ging. Dabei überlegte ich, welchen Grund Frollo gehabt haben mochte, Odon eine neue Aufgabe zuzuweisen. Ausgerechnet nach dieser Nacht, in der Quasimodo mich besucht hatte! Zufall?
Natürlich hätte ich Frollo danach fragen können, aber dann hätte er mein Misstrauen gespürt. Und schon wäre ich, mit ein wenig Pech, wieder ein hungriger, arbeitsloser Streuner in den Gassen von Paris gewesen. Also schweigen und so tun, als wäre nichts?
Nein! Obwohl die aufpeitschende Wirkung des Kirschweins nach-gelassen hatte, hielt ich wacker an meinem Entschluß fest und schaute mich in der Kathedrale nach Odon um. Es war das erste Mal seit dem Abend nach dem Dreikönigstag, daß ich meinen Turm verließ und das ehrfurchtgebietende Gewölbe wieder betrat, das der Schein vieler hundert Kerzen in ein überirdisches Licht tauchte. Noch waren die Pforten der großen Kirche nicht geschlossen, und in Notre-Dame verkehrte nicht weniger Volk als in den Gassen von Paris. Neben Büßenden, Betenden und Kirchenmännern bevölkerten Händler mit Bauchläden und um Almosen flehende Bettler die Kathedrale. Ich schob mich durch die Masse und hielt Ausschau nach dem markan-ten Gesicht Odons. Vielleicht war dies genau der rechte Zeitpunkt, mit ihm zu sprechen. Das Gewimmel und der Lärm schützten uns besser vor Claude Frollo als die dickste Mauer.
Endlich entdeckte ich ihn in einer kleinen Kapelle, wo er die Heiligen Drei Könige entstaubte. »Wenn Ihr weiter so eifrig an den Kö-
nigsköpfen herumpoliert, werden sie bald keine Kronen mehr tragen, Monsieur Odon.«
Da die lebensgroßen Statuen auf einer hüfthohen Mauer standen, war Odon auf einen wackligen Schemel gestiegen. Mein unerwartetes Erscheinen hätte ihn fast vom selbigen gerissen. Im letzten Augenblick konnte er sich an Kaspars Kopfschmuck festhalten, womit belegt war, daß es nicht nur für edelblütige Herren von Vorteil sein kann, nach der Krone zu streben.
Von oben herab, doch bar jeden Hochmuts, eher mit Erschrecken in den geweiteten Augen, starrte der Mesner mich an. »Ihr hier?«
»Warum nicht? Habt Ihr vergessen, daß ich ein Gast Dom Frollos bin? Immerhin wart Ihr bis gestern noch damit betraut, für mein Wohl zu sorgen.«
»Bis gestern, Ihr sagt es, Messire. Jetzt hab ich anderes zu tun.«
Odon sagte ›anderes‹ und meinte ›Wichtigeres‹. Das schien er zumindest demonstrieren zu wollen, als er wie besessen Kaspars Krone putzte, wie um sie von den Fingerabdrücken des Rettung suchenden Mesners zu befreien. Da er meiner so wenig achtete, drohte ich wü-
tend: »Ein Tritt gegen den Schemel, und die gesamte Dreikönigsmacht vermag Euch nicht vor dem Sturz zu bewahren!«
»Was wollt Ihr von mir?« Auch in seinem Blick lag jetzt Wut, gepaart mit etwas anderem. War es Angst?
»Ich will nur mit Euch reden.«
»Das tut Ihr bereits.«
»Ich rede mit einem zweiteiligen Entstauber, der aus Eurem Leib und einem Schemel besteht.«
Mit verkniffenem Gesicht stieg Odon herunter und blickte mich finster an, während seine Hände nervös mit dem wollenen Putzlappen spielten.
»Nun?«
»Ihr meidet mich seit vielen Tagen, Odon. Weshalb?«
»Was hab ich mit Euch zu schaffen? Ihr seid Kopist und wohnt oben im Turm, ich hab meine Pflichten hier unten. Zwei verschiedene Welten.«
»Welten, die sich berühren. Immerhin habt Ihr mir wochenlang Speise und Trank gebracht.«
»Bin ich meinen Pflichten nicht regelmäßig nachgekommen?«
»Doch, das seid Ihr.«
»Für mehr werde ich nicht bezahlt.«
Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung und verstand den Wink. Ein Griff in meine Geldkatze, ein Sol wechselte den Besitzer, und Odon schien nicht mehr ganz so abweisend. Um seine Lippen zuckte sogar ein Lächeln, als er auf die Münze in seiner rauen Hand sah.
Nicht, daß seine Scheu vor mir nur gespielt gewesen war, aber der Sol kaufte ihm
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