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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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gebieten.«
    Jehan Frollo kicherte erneut. »Des Königs Macht gegen die der Kirche. Vielleicht zeigt diese Nacht, welche Macht die größere ist.«
    Ich hätte ihm am liebsten die Faust ins Gesicht gerammt. Daß wir am Dreikönigstag Kameraden gewesen waren, zumindest für einige Stunden, schien er vergessen zu haben. Wie sagt doch ein Sprichwort der Deutschen: Den Freund zu erkennen, mußt du erst ein Scheffel Salz mit ihm gegessen haben. Bei dem Scholaren genügte schon eine Prise.
    In der Nähe des Chors nahmen wir eine schmale Wendeltreppe hinauf zur Empore. Ich war dankbar, nicht länger in die anklagenden Gesichter der Priester und Kirchendiener sehen zu müssen. Der junge Frollo hatte ganz recht: Rachedurst lag in ihren Blicken, Blutdurst in den ernsten Mienen. Alle christliche Erziehung, mochte sie auch Jahre oder Jahrzehnte in Anspruch nehmen, war nicht so stark wie des Menschen Urtriebe. Auge um Auge, Zahn um Zahn!
    Aber nicht weniger erbost als seine Kollegen unten blickte mir der Mesner Gontier entgegen. Seine schmale Gestalt lehnte an einer schlanken Säule – ein kränkelndes, mit halbtrockener Tinte geschriebenes I. Selbst im rötlichen Schein der von einem Scharwächter gehal-tenen Fackel war sein plattes Gesicht kreidebleich. Wie tot. Voller Leben waren dagegen seine Augen; es schien, als wollten sie mich verbrennen.
    Mehrere Schwarwächter umstanden den Mesner und eine Gruppe von mannshohen Skulpturen: Jesus und seine Jünger; vor ihnen wand sich eine weitere Steinfigur, eine krumme Gestalt, mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden, Schaum vor dem halb geöffneten Mund.
    »Der stumme Dämon«, sagte ich. »Markus beschreibt, wie Jesus den Jungen vom Dämon der Sprach- und Hörlosigkeit heilt.«
    »Famoser Kerl, dieser Jesus!« krähte Jehan Frollo. »Schade, daß er nicht mehr unter uns weilt. Seine Heilkunst wäre dem guten Quasimodo sicher recht nützlich gewesen.«
    Ich beachtete das dumme Geschwätz des Scholaren nicht weiter.
    Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Toten, der seltsam verrenkt auf der Skulptur des dämonbesessenen Jungen lag. Blut war aus einer tiefen Halswunde gelaufen und hatte eine große dunkle Pfütze gebildet, geradewegs vor dem Gesicht des aus Stein gemeißelten Jungen.
    Es sah aus, als wolle der Knabe mit seinen geschürzten Lippen daraus trinken. Die Augen des Toten blickten ungläubig zur Deckenwölbung hinauf. In seinem Mund steckte eine Spielkarte, die der bei Schwester Victoire gefundenen glich.
    Obwohl mir sofort klar gewesen war, wer diesmal dem Mörder zum Opfer gefallen war, packte mich Entsetzen. Vielleicht gar nicht so sehr aus Trauer um den Toten, sondern weil ich spürte, daß ein unsichtbares, aber starkes Seil mich mit dem Mord verband, den Ermordeten wie eine schwere Bürde an mich kettete. Angesichts des steinernen Erlösers fragte ich mich, welche Schuld ich auf mich geladen haben mochte.
    »Zwei stumme Dämonen.« Falcone wies auf den Jungen aus Stein und auf den Ermordeten. »Einen sinnigeren Ort hätte sich der Mörder nicht aussuchen können. Sein Opfer ist für immer zum Schweigen verdammt, wie es der Junge aus dem Neuen Testament gewesen wäre, hät-te Jesu Gnade ihn nicht geheilt.«
    »Ihr meint, dieser Ort verstärkt die Botschaft der Stabzehn?«
    »Eure rasche Auffassungsgabe ehrt Euch, Monsieur Sauveur.«
    Angespornt durch dieses Lob, überlegte ich laut: »Der Mörder hat abgewartet, bis Odon sich zum Putzen dieser Skulpturen auf die Empore begab.«
    »Oder er hat ihn eigens hergelockt, weil er unten im Schiff und im Chor zu viele Zeugen gehabt hätte.«
    »Dann müßte Odon seinen Mörder gekannt haben«, meinte ich.
    »Armand Sauveur wird’s schon wissen«, sagte Gontier mit vor Erregung zitternder Stimme. »Schließlich ist er der Mörder!«
    »Wie könnt Ihr so etwas behaupten?« fuhr ich den Mesner an.
    »Fragt den Leutnant, ihm hab ich’s bereits erzählt.«
    »Wiederholt es bitte für Monsieur Sauveur«, sagte Falcone so bestimmt, daß es schon keine Bitte mehr war.
    »Als ich heute Abend die Suppe zu Sauveur brachte, fiel er mich an und stieß mich zu Boden. Wie ein wildes Tier verhielt er sich. Er glaubte, Odon vor sich zu haben, und als er seinen Irrtum erkannte, fragte er mich nach Odon.«
    »Ich habe Euch nicht angefallen, ich bin gestolpert!«
    »Was wolltet Ihr so Dringendes von Odon?« Falcones Ton war beiläufig, seine Miene unverbindlich. Aber ich spürte das unterschwellige Lauern des Jägers darauf, daß das Wild endlich in

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