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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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ein gut Teil der Befangenheit ab. Plötzlich, als befürchte er, ich könne einem Sinneswandel anheim fallen, schlossen sich seine Finger um die Kupferscheibe.
    »Also, Maître Sauveur, womit kann ich dienen?«
    »Erzählt mir von Quasimodo. Er ist doch nicht wirklich Dom Frollos Sohn?«

    »Er ist’s, und er ist’s nicht.«
    »Für einen Sol nenn ich das reichlich ungenau.«
    »Folgt mir, Maître, und ich erklär’s Euch.«
    Wir durchschritten das Kirchenschiff und traten durch das Portal der Heiligen Jungfrau auf den Vorplatz. Sofort fühlte ich mich beflü-
    gelt und genoß mit ausgebreiteten Armen den frischen Abendwind, der vom linken Seineufer herüberwehte. Wie ein Vogel hätte ich mich in die Lüfte erheben und davonfliegen mögen! Und frei wie ein Vogel fühlte ich mich zum ersten Mal, seit ich in Claude Frollos Dienste getreten war. Gewiß hatte ich auch dort oben auf dem Turm die frische Luft geatmet, aber stets mit dem Gefühl, kein Teil der Welt draußen zu sein, sondern der Gefangene von Notre-Dame.
    Odon führte mich zu einem grob gezimmerten Bettgestell aus Holz, das vor einem Kupferkessel stand. »Das ist, wenn Ihr’s so wollt, die Wiege Quasimodos. Hier legen die guten Pariser Leute ihre Kinder ab, wenn die Brut nicht erwünscht oder ihr Hunger nicht zu stillen ist. Wer will, kann zugreifen und sich des Kindes annehmen.« Odon zeigte auf den Kessel. »Und eine Spende für die armen Waisen ist auch stets willkommen.«
    »Ein Findelkind also.«
    »Was sonst? Welche Mutter will ein Monstrum wie Quasimodo großziehen?«
    »Und Claude Frollo nahm sich seiner an?«
    »Sonst wollte niemand das ungeschlachte Wesen haben. Schätze, selbst im Hôpital de Saint-Esprit-en-Grace, das doch den Waisen eine Zuflucht sein soll, hätte man die Pforten für Quasimodo nicht geöffnet, und die ehrenwerten Waisenhüter unserer Stadt hätten sich mit Grausen abgewendet. Nein, nein, Maître, glaubt mir, Quasimodo kann von Glück sagen, daß unser Dom Frollo, damals noch ein junger Kaplan, seiner ansichtig wurde.«
    »Und er zog ihn auf?«
    »Er zog das Monstrum auf. Das war vor fünfzehn oder auch sechzehn Jahren, als der Schwarze Tod Frollos Familie dahingerafft hatte.
    Nur sein kleiner Bruder lebte noch.« Odon senkte seine Stimme und näherte seinen Mund meinem linken Ohr. »Man munkelt, der Archidiakon habe einen finsteren Pakt geschlossen, das Leben seines Bruders gegen Quasimodo. Frollo zog den Wechselbalg auf, und dafür fiel sein Bruder nicht der Pest anheim.«
    »Mit wem schloß Frollo diesen Pakt?«
    Odon wich zurück. »Weiß ich’s? Gerüchte sind’s doch nur. Aber man nennt den Glöckner auch des Teufels Sohn, nicht wahr?«
    »Seinem Namen zufolge käme das hin«, überlegte ich laut.
    »Er erhielt seinen Namen, weil er an Quasimodo gefunden wurde, dem ersten Sonntag nach Ostern.«
    »Wärt Ihr im Lateinischen ein wenig bewanderter, wüsstet Ihr auch, was Quasimodo bedeutet. Nämlich soviel wie ›ungefähr‹ oder ›beinahe‹.«
    »Beinahe?« wiederholte Odon.
    »Ja, beinahe ein Mensch.«
    »Ohne Dom Frollo wäre nicht mal das aus ihm geworden, sondern nur ein totes Monstrum.«
    »Frollo ist ein sehr interessanter Mann. Erzählt mir mehr über ihn, Odon.«
    »O nein, gewiß nicht! Hab Euch genug gesagt für Euren Sol, wirklich genug. Jetzt muß ich gehen, Statuen putzen.«
    Die Zeit schien ihn weniger zu drängen als die Angst vor dem Archidiakon. Ich hielt den Forteilenden am Ärmel fest und holte einen weiteren Sol hervor.
    »Das ist der Lohn, wenn Ihr mir noch etwas Zeit opfert.«
    »Man soll nicht zu gierig sein«, versetzte Odon und riß sich los, um eiligen Schrittes auf das Portal der Heiligen Jungfrau zuzuhalten.
    Unschlüssig stand ich da, die Münze noch in der Hand. Jetzt wußte ich, weshalb man Quasimodo mal den Bruder Jehan Frollos und dann wieder den Sohn Claude Frollos nannte. Er war beides und doch viel weniger. Ein Findelkind.
    Nur beinahe ein Mensch.
    So wie ich.
    Vielleicht war das der Grund, warum ich letzte Nacht beim Zusam-mensein mit dem krummen Glöckner eine unerklärliche Vertrautheit verspürt hatte.
    Die gewaltige Kathedrale verschwand und ebenso der belebte Vorplatz, das Hôtel-Dieu, der Bischofspalast links der Kathedrale und der Kanonikerbezirk rechts von ihr. Aus dem selbst im Abenddämmer noch geschäftigen Paris wurde das beschauliche Sablé, Ort meiner Kindheit und Jugend. Und Hort meines Geheimnisses, das mir so unlösbar schien wie das Rätsel von Notre-Dame.
    Als

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