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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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einem angesehenen Kanoniker ein Schreckgespenst?

    Doch wenn es so war, wie passten die Morde in das Bild? Sie waren keine Einbildung. Ebenso wenig wie der Schnitter von Notre-Da-me. Ein erschreckender Gedanke raubte mir für einen Augenblick den Atem: Konnte ein Geist derart verwirrt sein, daß er sich spaltete? Konnten zwei Wesen in einem Körper hausen, von denen eins ohne Wissen des anderen Untaten beging? Oder war es der endgültige Wahnsinn, sich selbst des Mordes zu verdächtigen?
    Immer mehr Volk drängte ins Langschiff, um der Abendmesse beizuwohnen. Während ich in die Menge eintauchte, um Frollo in Richtung Chor zu folgen, blickte ich mit Schaudern zu der Empore hinauf, die Odons Ende gesehen hatte. Wären die Skulpturen doch aus Fleisch und Blut gewesen, dann hätten sie von der Untat erzählen und den Mörder benennen können!
    Ich stutzte und blieb so abrupt stehen, daß ich durch unsanfte Stö-
    ße in den Rücken weitergeschoben wurde. Was ich auf der Empore erblickte, ließ mich alles andere vergessen. Die Figuren schienen zum Leben erwacht, bewegten sich, wie um meinen stillen Wunsch zu er-füllen!
    Verwirrt drückte ich mich in eine Kapelle, lehnte mich achtlos gegen einen kunstvoll verzierten Wandteppich und kniff mehrmals die Augen zusammen. Die majestätischen Töne der Orgel vor der westlichen Fensterrosette erfüllten die Kathedrale, durchdrangen sie bis in den hintersten Winkel, wie sie meinen Leib durchdrangen und erzittern ließen. Vielleicht schwankte ich auch, weil ich noch immer die Bewegung auf der Empore wahrnahm. Mein Blick hing starr an der seltsamen Erscheinung, während im Chor der Gesang der Kanoniker erklang.
    In das anschwellende »Kyrie Eleison!« der Kirchenmänner mischten sich die zarten Stimmen der zwölf Chorknaben vom Gaillon-Haus, und in ihrem hellen, klaren Klang erkannte ich die Wahrheit: Nur eine Figur bewegte sich auf der Empore, und die war nicht aus Stein gehauen. Ein Mann mit schulterlangem Lockenhaar stand, den Statuen zugewandt, auf der Empore und schien ganz und gar mit etwas beschäftigt.

    Ich tauchte wieder in den Strom der Menge ein und bemerkte im Nä-
    her kommen, daß der Lockenkopf in einer Hand einen Zeichenblock und in der anderen, der linken, einen Stift hielt, der eifrig über das Papier fuhr. Und dann – er vollführte eine leichte Drehung zum Licht der Kerzen – erkannte ich auch sein Gesicht. Deutlich sah ich es vor mir und meinte, die kehlige Stimme zu hören, die bei der Dicken Margot Villons Fürbitte sang.
    Der Italiener!
    Maître Leonardo!
    Quasimodo hatte mir von dem Mann erzählt, der in Notre-Dame Zeichnungen anfertigte. Er mußte es sein. Aber ausgerechnet an dem Ort, an dem Odon gestorben war?
    Keine zwanzig Schritte trennten mich mehr vom Aufgang zur Empore, da kreuzten sich unsere Blicke. Ein kurzer Moment der Überraschung, und geschwind lief er die engen Stufen hinunter, um ebenfalls ein Teil der Menge aus Gläubigen und Bettlern zu werden. Seine hohe Gestalt überragte die meisten anderen, und deutlich sah ich das lok-kige Haupt, auf dem eine blaue Wollkappe saß. Schnell bewegte sich der Mann von mir fort, wie ein Flüchtender. Und genau das war er. Ich hatte in seinen Augen gelesen, daß er mir nicht begegnen wollte, nicht hier in Notre-Dame, wo er der Zeichner, nicht der Spielmann war.
    Es hatte keinen Sinn, ihm nachzueilen, er hatte seinen Fluchtweg gut gewählt. Elegant wie eine Schlange hatte er sich durch das dickste Menschenknäuel hindurchgeschoben, das, von den Nachdrängenden zusammengedrückt, jetzt kaum noch eine Lücke bot. Maître Leonardo, falls er wirklich so hieß, verschwand hinter Menschen, Skulpturen und Säulen. Ich konnte nicht einmal sehen, welchem Portal er zustrebte. Also war es auch zwecklos, ihm draußen aufzulauern.
    Vom rhythmischen Donner der Orgelpfeifen begleitet, erstieg ich die Empore, mehr einer inneren Regung als einer konkreten Eingebung folgend. Fast wäre ich auf etwas ausgerutscht. Es war ein Blatt Papier, das der andere in der Hast seiner Flucht verloren hatte. Eine Kohle-zeichnung der Figurengruppe, in deren Mitte Odons Leiche gelegen hatte. Vor dem sich krümmenden Jungen war sogar der Blutfleck an-gedeutet. Ich näherte mich den Skulpturen und sah, daß der Fleck auf dem Boden noch zu erkennen war. Welchen abartigen Zweck mochte der Italiener mit dieser Zeichnung verfolgen?
    Meine Verwirrung war größer denn je. Ich faltete die Zeichnung zusammen und schob sie so unter mein Wams, daß

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