Im Schatten von Notre Dame
Fürchtet Ihr wo-möglich, auch ein Opfer des Schnitters zu werden?«
Der Gedanke ließ mich innerlich erstarren. War das eine Frage oder eine Warnung? Was auch immer in Frollo vorging, sein Mienenspiel verriet ihn nicht.
»Wenn man in Notre-Dame nicht sicher ist, ist man’s draußen in den Straßen erst recht nicht«, erwiderte ich ausweichend. »Über den Schnitter mache ich mir keine großen Gedanken, da ich ihn und seine Beweggründe nicht kenne.«
»Recht so, streift die düsteren Gedanken ab. Sie führen nur in dunkle Ecken, aus denen man schwer wieder herausfindet. Kümmert Euch nur um die Kometen, und Ihr werdet die Bluttat bald vergessen!«
Nach dieser Aufforderung – oder war es ein Befehl? – verabschiedete sich der Archidiakon. Hatte der Wolf den vorwitzigen Waldgänger gewarnt? Oder hatte nur der Gelehrte seinem trödelnden Kopisten eine mahnende Visite abgestattet?
Bevor Frollo die Tür hinter sich schloß, tauchte ich den Federschna-bel demonstrativ ins Tintenfass, aber ich brachte kaum ein Wort zu Papier. Ich hatte gesehen, daß mein Brotherr zu seiner Klause ging, und dort blieb er über Mittag. Ich hielt mich am Fenster auf und starrte auf den Turm. Wie ich als Knabe zur Osterzeit durchs Fenster gestarrt hatte.
Jedes Jahr, wenn das Osterfest nahte, klebte ich an den Fenstern der Abtei von Sablé. Nicht um, wie die anderen Kinder, die Osterkrani-che beim Verstecken der Eier zu belauern. Ich glaubte nicht mehr, daß die aus dem Morgenland heimkehrenden Vögel die bunten Eier legten, seit ich gesehen hatte, wie die Laienbrüder die Eier bemalten. Nein, ich wartete auf den Geheimnisvollen, auf den Unsichtbaren.
Auf meinen Vater!
Zu jedem Osterfest lag ein Lederbeutel vor der Abtei, gefüllt mit zehn Goldkronen und einem kleinen Papier, immer mit der gleichen Aufschrift: Zur hinreichenden Beköstigung und Bekleidung wie zur gottge-fälligen Erziehung von Armand Sauveur.
Wer den Beutel brachte, blieb unbekannt. Ich aber spürte, daß es nur mein Vater sein konnte. Das österliche Mysterium stärkte mein Ansehen im Ort nicht gerade. Viele flüsterten, ich sei der Sohn des Teufels, der sich einen Spaß daraus mache, mich von Mönchen erziehen zu lassen. Das Gerede wurde mir zunehmend gleichgültig, ich wollte endlich meinen Vater kennenlernen. Doch niemals sah ich ihn, und auch die frommen Brüder bekamen ihn nicht zu Gesicht.
Als ich kurz vor der Vesper den Schatten eines Menschen zwischen den Säulen und Skulpturen auftauchen sah, stürzte ich nach draußen, zum Treppenportal, und eilte nach unten. Diesmal war ich vor Frollo in der Kathedrale, und er würde mir nicht entwischen.
Mit rasselndem Atem, denn ich war schnell gelaufen und hätte auf der dunklen Treppe fast das Gleichgewicht verloren, drückte ich mich hinter eine Säule, so daß ich für den, der aus dem Treppenhaus trat, unsichtbar war. Während ich, die erhitzte Stirn an den kühlenden Stein gepresst, auf Frollo wartete, kam mir erst zu Bewußtsein, was für ein unsäglicher Dummkopf ich war.
Falls der Archidiakon, wie er es häufig tat, auf seinem Weg zum Treppenportal in meine Zelle lugte, würde er meine Abwesenheit bemerken. Weder hatte ich das Tintenfass verschlossen noch die Bücher zugeschlagen und beiseite gelegt. Mußte ein kluger Kopf wie Frollo da nicht unweigerlich Verdacht schöpfen?
Wie auch immer, jetzt war es zu spät. Stieg ich die Treppe wieder hinauf, würde ich ihm geradewegs in die Arme laufen. Ich konnte nur hoffen, daß er nicht in meine Zelle spähte, mich nicht für den Spion hielt, zu dem ich mich selbst erkoren hatte.
Kaum läutete Quasimodo die Vesper ein, trat sein Gebieter aus dem Halbdunkel des Treppenaufgangs und verharrte für einen Augenblick in der Kathedrale. Er zwinkerte mehrmals, so als müßten seine Augen sich an das Licht gewöhnen. Oder als suche er etwas. Oder jemanden. Mich?
Ich drückte mich so eng gegen die kühle Säule, daß ich den Archidiakon nur noch als Schemen wahrnahm. Bis er sich bewegte und gemessenen Schrittes zum Chor ging. Dabei begrüßte er einige der in die Kathedrale tretende Kanoniker, wechselte mit diesem und mit jenem ein paar Worte. Nichts schien darauf hinzudeuten, daß er ein Mann mit Geheimnissen, mit düsteren Absichten war.
Entstammte dieser Gedanke bloß meiner Phantasie? Hatte mein von verwirrenden Träumen gequälter Geist in einem Anfall von Wahn harmlose Ereignisse zu einem Komplott verdichtet, das nur in meinem Kopf existierte? Machte ich aus
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