Im Schatten von Notre Dame
erhaschte ich nicht einmal einen Blick auf Claude Frollo. Obwohl kalter Wind unangenehmen Regen über die Dächer trieb, fast so schlimm wie in meinem Traum, verließ ich mehrmals meine Zelle und streifte über den Turm, wie um frische Luft zu schnappen. In Wahrheit schlich ich um Frollos Klause herum. Sie lag ruhig und düster in ihrer versteckten Ecke.
Der Gedanke an Dom Frollos Zorn und an die Kraft seines buckligen Vollstreckers ließ mich der Versuchung widerstehen, mich der Zelle zu nähern und durch das einzige Fenster hineinzusehen. Fand ich den Archidiakon nicht hier oben, dann vielleicht unten in der Kathedrale.
Doch auch an diesem Abend nahm er nicht am Gebet teil, blieb er unsichtbar, wie von der Seine verschluckt. Meine Nachforschungen standen unter keinem guten Stern. Als Kriminalleutnant am Châtelet hätte ich die kläglichste aller Figuren abgegeben. Ich fühlte mich ähnlich verloren wie viele Jahre zuvor am Tag des heiligen Georg, bei jenem unglückseligen Wettlauf in Sablé.
Jeannette, die Tochter des Bürgermeisters, sollte den Siegespreis überreichen, eine geschnitzte und buntbemalte Statuette, die den berittenen Heiligen im Kampf mit dem Drachen darstellte. Jeder Junge aus dem Ort wollte die Figur besitzen, war es doch, als sei man damit der Drachentöter selbst. Und kam es nicht der Bezwingung eines fürchterlichen Drachen gleich, der Schnellste zu sein, alle anderen Knaben zu besiegen? Mit klopfendem Herzen und heißem Blut stellten wir uns bei der Pfarrei auf. Kaum konnten wir uns bezähmen, bis der Pfarrer das Kreuz schlug, unser Zeichen.
Wir rannten los, einmal um den ganzen Ort herum, bis zum Haus des Bürgermeisters, unserem Ziel. Jeder sah den heiligen Georg vor Augen, die wundervolle Statuette, die aus einem einfachen Jungen einen Helden machte. Nur ich dachte an etwas anderes. Vor meinen Augen leuchtete allein das Bildnis von Jeannette. Kastanienfarbene Lok-ken, eine Haut wie Elfenbein, getupft mit ein paar winzigen Sommersprossen, große Smaragdaugen und Lippen wie reife Kirschen. Wie oft sah ich das Gesicht vor mir, wenn ich nachts in meiner Zelle in der Abtei lag, umgeben nur von Mönchen und Laien. Wie gern hätte ich die samtenen Wangen berührt, die Locken gestreichelt – den Kirschmund geküßt!
Aber Jeannette war die Tochter des vornehmsten Bürgers und ich nur ein Waisenkind, ein Bastard. Sie schien nicht einmal von meiner Existenz zu wissen, und wenn doch, scherte sie sich nicht darum. Das sollte sich am Georgstag ändern. Denn Jeannette, so war es Brauch, überreichte dem Sieger nicht nur den Preis, sondern gab ihm auch den Siegeskuß. Mir! In jeder freien Stunde hatte ich mich für den Lauf ge-rüstet, schon seit Walpurgis. Winkte mir doch ein größerer Preis als allen anderen.
Also liefen wir, die Jungen aus Sablé. Die Söhne der hochangesehe-nen Bürger wie die der Bauern und Lohnarbeiter. Und ich, der von allen verachtete Bastard. Wie sie staunten, als ich die Führung übernahm, kaum hatten wir den Ort verlassen. Armand, der Findling, machte ihnen allen etwas vor. Ich keuchte und kämpfte, lief und lief, allen anderen voraus. An mir vorüber flogen die strohgedeckten Hütten der Tagelöhner am Ortsrand, die Obsthaine, das mit Frühlings-blumen gesprenkelte saftige Grün des Flussufers und die Gesichter der Zuschauer, die über den Anführer der Meute staunten, über mich, den Bastard.
Sablé war umrundet, und ich lag weiterhin an der Spitze. Die anderen schienen weit abgeschlagen, ihre Schritte und ihr Keuchen drangen kaum noch an mein Ohr. Vor mir tauchte das große Steinhaus des Bürgermeisters auf, ein Haus mit richtigen Glasfenstern. Davor das hölzerne Podest mit dem Bürgermeister, dem Abt und den anderen Honoratioren. Und mit Jeannette, die den heiligen Georg trug. Ich hatte es geschafft, war stolz und glücklich. Nur noch wenige Schritte!
Und die anderen Jungen? Grinsend wandte ich mich nach ihnen um.
Die vordersten hatten gerade Laurents Schmiede erreicht, keine Gefahr für mich. Da drehten sie sich plötzlich, seltsamerweise, und mit ihnen die Häuser und Bäume. Die ganze Welt. Erst als ich dumpf aufschlug, begriff ich, daß ich es war, der sich gedreht hatte. Mein rechter Fuß hatte sich in einer Distel verfangen. Ich stürzte in den Graben vor dem Haus des Bürgermeisters, mein Kopf schlug an einen faustgroßen Stein. Vielleicht hätte ich die Besinnung verloren, hätte das Wasser im Graben nicht mein Gesicht umsprudelt.
Benommen und
Weitere Kostenlose Bücher