Im Schatten von Notre Dame
schließlich die aufgeschlagenen Bücher.
»Darf man fragen, welche Aufgabe der Archidiakon Euch übertragen hat, oder ist das ein großes Geheimnis?«
»Wie kommt Ihr darauf, daß es überhaupt eins sei?«
Falcone sah zum Fenster hinaus. »Warum sonst sollte Frollo Euch hier oben halten wie einen Sklaven, abgeschottet von der Welt? Immerhin hat Pierre Gringoire es nicht länger ausgehalten und ihm den Dienst aufgekündigt.«
Was klang wie eine zufällige Bemerkung, war viel mehr. Der Kriminalleutnant hatte sich gut informiert, und das sagte ich ihm auch.
»Ebenfalls etwas, das zu meinem Beruf gehört. Ich muß mich um-hören und vieles hier drin verwahren, das auf den ersten Blick nichts mit dem Fall zu tun hat.« Er tippte an seinen Kopf. »Aber selbst be-langlose Einzelheiten können im Zusammenhang mit anderen scheinbaren Belanglosigkeiten ganz plötzlich eine Bedeutung erlangen. Und manchmal ist das, was man mir sagt, ebenso wichtig wie das, was mir verschwiegen wird. Wer schweigt, hat in der Regel etwas zu verbergen.
Nicht wahr, Monsieur Sauveur?«
Er warf ein Netz nach mir aus. Meine Erwiderung konnte die falsche Bewegung sein, mit der ich mich in den Maschen verfing. Deshalb beschloß ich zu antworten, ohne selbst etwas zu sagen: »Zur rechten Zeit zu schweigen ist ein Zeichen von Weisheit und oft besser als jede Rede, sagt Plutarch.«
»Wer weiß, was der zu verbergen hatte.« Falcone trat dicht vor mich und sah mich durchdringend an. Jetzt war er wieder der Falke, unmittelbar vor dem Zupacken. »Mich allerdings interessiert mehr, was Ihr vor mir verbergt!«
Endlich war es heraus. Er hatte eine Spur gefunden, die zu mir führ-te. Hatte etwas in der Hand. Gegen mich!
Unruhe ergriff mich, ließ meine Hände feucht werden, brachte meine Lider zum Flattern. Ich zwang mich zur Ruhe und sogar zu einem unschuldigen Lächeln. »Ihr sprecht zu mir wie zu einem Verbrecher, Herr Leutnant.«
»Und – seid Ihr einer?«
»Ich wüsste nicht, wessen man mich anklagen sollte.«
Seine Antwort bestand in nur zwei Wörtern, einem einzigen Namen, und doch erschütterte mich der mehr, als hätte Falcone eine ganze An-klageschrift verlesen: »Philippot Avrillot.« Ich geriet aus der Fassung, was Falcone mit einem befriedigten Seufzer zur Kenntnis nahm. »Ich sehe, Ihr kennt Maître Avrillot. Ganz blass seid Ihr geworden.«
»Er war ein guter Mann, der eines bösen Todes gestorben ist«, sagte ich leise und wohlüberlegt. Die Festung war erschüttert, aber mein Widerstand noch nicht zusammengebrochen. Wir spielten nicht mehr Ball, sondern Primero. Jeder wollte durch Andeutungen herausfinden, welche Karten der andere in der Hand hielt. Wer zuviel andeutete, verriet sich.
»Was wisst Ihr über den Tod des Zölestiners?« fragte der Leutnant.
»Nur das, was man sich allgemein erzählt. Er geriet unter das Pferd eines Notars vom Châtelet. Ein tragisches Missgeschick.«
»Kein Missgeschick, sondern ein Attentat. Das sagt jedenfalls besagter Notar, Gilles Godin. Ein Unbekannter stieß Avrillot vor sein Pferd, mit voller Absicht, wie es Maître Godin schien.«
»Aber warum?«
»Ich dachte, Ihr könntet mir helfen, diese Frage zu beantworten, Monsieur Sauveur. Schließlich kanntet Ihr den Oblaten – was Ihr mir verschwiegen habt!«
»Verschweigen kann man nur, was mitzuteilen man sich verpflichtet fühlt. Ich wußte nicht, daß Maître Avrillot Euch interessiert, Herr Leutnant. Seid Ihr nicht länger mit der Suche nach dem Schnitter betraut?«
»Doch, und gerade das hat mich auf Eure Spur gebracht. Avrillot starb in der Nacht nach dem Dreikönigstag, Schwester Victoire am darauf folgenden Tag. Beide dienten dem geistlichen Stand der Stadt.
Liegt da ein Zusammenhang zwischen beiden Taten so fern?«
»Fand man denn die Stabzehn bei dem Zölestiner?«
»Nein, aber das spricht nicht gegen einen Zusammenhang.«
»Ich vermag Euch zwar nicht ganz zu folgen, aber dennoch: Verzeiht, daß ich Euch nicht über meine kurze Bekanntschaft mit Maître Avrillot unterrichtete.«
»Wie kurz war sie?«
»Wir begegneten einander nur einmal, am Morgen des Dreikönigstages, unten vor der Kathedrale. Ich hatte kein Bett für die Nacht gefunden und daher bei den Bettlern geschlafen. Als die Mesner mich unsanft verscheuchen wollten, stand Avrillot mir bei.«
»So ähnlich haben es mir die Mesner auch erzählt.«
»Ah, das ist also Eure Spur«, brummte ich. »Odons Kollegen halten mich wohl noch immer für den Schnitter und nutzen
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