Im Schatten von Notre Dame
klitschnass erhob ich mich, während ein feixender Rivale nach dem anderen an mir vorbeizog. Jeannette beugte sich zu Matifas, dem pickelgesichtigen Sohn des Bäckers, gab ihm die Statuette – und den Kuß. Für mich blieb nur das gleiche wie stets: Hohn und spöttische Rufe.
»Hochmut kommt vor dem Fall, Bastard!« – »Hochmut geht zu Pferde aus und kehrt zu Fuße heim!« – »Hochmut tut nimmer gut!« Und dergleichen mehr. Das schlimmste war: Sie hatten recht, und Jeannette blieb nur ein Traum.
Am Abend saß ich allein am Ufer der Sarthe und zerhieb mit einem Stock die unschuldigen Sumpfdotterblumen. In Wahrheit war ich wütend auf mich selbst. Doch damals verfluchte ich voller Hass meinen Vater, den Fremden, den Unbekannten, den Geheimnisvollen. Ich wünschte ihm die Pest an den Leib oder einen Strick um den Hals.
Ganz gleichgültig wie, er sollte leiden. Wie er seinen Sohn leiden ließ, ihn der Schande aussetzte, ein Bastard zu sein. Einer, von dem sein Vater so wenig wissen wollte, daß er dem Sohn nicht einmal Gesicht und Namen offenbarte.
Die unendliche Trauer, die mich an jenem Abend befiel und den Hass entfachte, galt nur vordergründig dem verlorenen Lauf, dem ver-gebenen Kuß, der unnahbaren Jeannette. Im tiefsten Innern trauerte ich um den Vater, der mir stets ein Fremder sein würde.
Als ich jetzt, viele Jahre später, darüber nachdachte, verglich ich die Trauer jenes Georgsabends mit der in meinem Traum. Eine ähnlich tiefe Empfindung, die ich mir nicht zu erklären vermochte. Welche Verbindung sollte es zwischen dem buckligen Glöckner und meinem Vater, meinen Gefühlen geben? Es blieb rätselhaft und doch un-abweislich. In der folgenden Nacht kehrte der Traum zurück, und wieder weinte ich um Quasimodo.
Der Tag des Herrn rückte näher. Dom Frollo und Gilles Godin hatten sich für eine geheimnisvolle Zusammenkunft in fünf Nächten verabredet. Zwei Nächte waren um, drei blieben mir noch, zu erkunden, was den Archidiakon umtrieb. Ich spürte, ahnte, daß diese Zusammenkunft der Neun, wie Frollo es genannt hatte, wichtig für mich war.
Sie konnte mir helfen, mehr über die Verbindung zwischen Frollo und Godin herauszufinden. Mehr über das Netz, in dem ich mich gefangen wähnte.
Der Vormittag wollte nicht vorübergehen. Ich hockte über dem zweiten Abschnitt von Gringoires Buch und hing, während die Feder aus-trocknete, meinen Gedanken nach. Den Besucher bemerkte ich erst, als er mitten im Raum stand.
»Fühlt Ihr Euch unwohl, Monsieur Sauveur? Ihr haltet die Schreibfeder so weit von Euch gestreckt, als bereite ihr Anblick Euch tiefste Qual, von ihrer Benutzung ganz zu schweigen. Gontier sagte mir, daß Ihr in letzter Zeit wenig esst und abends gern auswärts speist. Ich habe ihn gehörig ins Gebet genommen; Ihr braucht Euch nicht mehr um die Schmackhaftigkeit Eurer Mahlzeiten zu sorgen.«
Dom Frollos prüfender Blick lastete auf mir. War das echte Besorgnis? Und falls ja, woher rührte sie? Am liebsten hätte ich ihn das frei-heraus gefragt, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen. Waren meine dunklen Befürchtungen berechtigt, hätte ich mich dem Feind verraten. Waren sie es nicht, hätte ich mich zutiefst der Lächerlichkeit preisgegeben.
»Es geht nicht um das Essen, da habe ich keine Beschwerden vorzu-bringen«, stammelte ich und versuchte, meiner Überraschung Herr zu werden, während ich abwechselnd auf Frollo und auf die Feder mit der längst getrockneten Tinte sah. »Aber Gringoires Ausführungen über die Ansichten der neueren Gelehrten zu den Kometen sind wirklich eine harte Kost. Ich werde nicht recht klug daraus.«
»Würde jeder daraus klug, wären die Gelehrten kaum gelehrt zu nennen.« Ein spöttisches Lächeln umspielte Frollos Lippen, wich aber schnell wieder einer ernsten Miene. »Ist es wirklich nur der wissenschaftliche Disput, der Euch die Lust an Arbeit und Speise nimmt?«
Ich entschloß mich zu einer Antwort, die nahe bei der Wahrheit lag, was stets die besten Aussichten bietet, beim Lügen nicht ertappt zu werden. »Ich muß viel an den unglücklichen Odon denken. Immerhin war ich einer der letzten, die ihn lebend gesehen haben.«
»Macht Ihr Euch irgendwelche Vorwürfe?«
»Sollte ich?« Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war der Mörder schon in der Kathedrale, als ich mit Odon sprach. Vielleicht bin ich ihm sogar begegnet.«
»Es sind wahrlich gottlose Zeiten, in denen solch eine Bluttat in den heiligen Mauern von Notre-Dame geschehen kann.
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