Im Schatten von Notre Dame
sie auf keinen Fall verschwinden konnte. Sie war ein Beweis, auch wenn ich noch nicht wußte, für was. Falls mir soeben der Schnitter entkommen war, wozu brauchte er eine Zeichnung vom Ort seiner Bluttat?
Ich zwang meine Gedanken in andere Bahnen und schaute zum Chor, um Claude Frollo zwischen den Kanonikern ausfindig zu machen. Wieder und wieder ließ ich den Blick über die geistlichen Herren schweifen, aber der Archidiakon befand sich nicht unter ihnen. Wieder hatte er mir ein Schnippchen geschlagen, hatte sich nur scheinbar zum Chor begeben, sich dann aber, außerhalb meines Blickfelds, abgesetzt. Ob zufällig oder weil er wußte, daß ich ihn verfolgte, vermochte ich nicht zu sagen, doch im Ergebnis blieb es sich gleich: Armand der Bastard hatte abermals das Rennen verloren, an diesem Abend gleich zweimal.
Meine Enttäuschung niederringend, verließ ich die Empore und dann die Kathedrale. Die abwechselnd von Sängern und Orgel vorgetragene Melodie dröhnte in meinem Kopf, und die vielen Menschen nahmen mir die Luft zum Atmen. Auf dem Vorplatz konnte ich wieder klar denken und faßte einen Entschluß. Der seltsame Italiener war mir zwar entkommen, aber ich besaß eine Spur.
Ich ging denselben Weg wie drei Nächte zuvor mit Falcone und kehrte bei der Dicken Margot ein. Obwohl ich bis weit nach dem Angelusläuten dort ausharrte, sah ich den Spielmann nicht, nicht die Tänzerin und auch nicht den Kriminalleutnant. Ich dachte an Falcones siziliani-sche Herkunft und fragte mich, ob eine Verbindung zwischen ihm und dem hellhaarigen Italiener bestand.
Als auch die Dicke Margot selbst nach Stunden nicht auftauchte, erkundigte ich mich bei dem Rotschopf, den Falcone an jenem Abend auf seinen Schoß gezogen hatte, nach ihr.
»Madame ist heute Abend nicht im Haus.«
»Und der Spielmann?«
»Welcher Spielmann?«
»Der an dem Abend, als ich mit Leutnant Falcone hier war, gesungen hat!«
»Wer seid Ihr? Und wer ist dieser Falcone?«
»Der kleine Mann mit dem dunklen Lockenhaar, der von dir so angetan war. Er wollte mit dir aufs Zimmer.«
»Ich erinnere mich nicht.«
Die Magd eilte weiter und warf mir aus der Ferne einen scheuen Blick zu. Daß sie log, war mir klar, doch ich wollte nicht weiter in sie dringen. Auch wenn ich es mir nicht eingestand, insgeheim fürchtete ich, sie könnte nach dem Gespräch mit mir aufgefunden werden: die Kehle durchschnitten, die Stabzehn im Mund.
Kapitel 8
Kipper und Wipper
Spricht nicht der Morgenländer vom Propheten, der zum Berg kommt? Falcone befolgte die Weisheit, vielleicht ohne sie zu kennen. Das Läuten zur Non war seit Stunden verklungen, als er meine Zelle betrat und mir vor Überraschung die Feder aus der Hand auf den Boden fiel.
»Die meisten Menschen erschrecken beim Anblick eines Polizisten, als hätten sie etwas zu verbergen.« Er lächelte entschuldigend und breitete in einer hilflosen Geste die Arme aus, daß die Falten seines Mantels sich wie die Flügel einer Fledermaus auffächerten.
Ich kannte seine unverbindliche Freundlichkeit zur Genüge, um hinter der munter plappernden Feldlerche den lauernden Fuchs zu erkennen. War dies der Augenblick, ihm von Maître Leonardo zu berichten und die Zeichnung hervorzuholen? Aber dann hätte er auch den roten Drachen gesehen und mich gefragt, weshalb ich die Figur und das Papier in einem Geheimversteck aufbewahrte.
»Ihr seid nicht der Grund für meine Ungeschicklichkeit, jedenfalls nicht direkt«, erwiderte ich, hob die Feder auf und legte sie zu den anderen in den verzierten Kasten. »Ich war etwas ermüdet und hielt Euch im ersten Augenblick für Dom Frollo, der mich bei meiner Nachlässigkeit ertappt. Hoffentlich verratet Ihr mich nicht. Ich war gestern Abend wohl zu lange bei der Dicken Margot.«
Ich stellte fest, daß mir das Lügen immer leichter wurde, je länger ich mich darin übte. Zufrieden mit meiner Antwort, beugte ich mich vor und drückte den Pfropfen auf das Tintenfass. Wir ähnelten spielenden Gassenjungen. Jetzt hatte ich den Ball wieder ihm zugeschoben. Wenn er wußte, daß ich mich in der Schenke nach dem Spielmann erkundigt hatte, war es an ihm, das Gespräch auf den Italiener zu bringen.
»In meinem Beruf bin ich oft auf Verräter angewiesen, doch heißt das nicht, daß ich selbst einer bin. Außerdem habe ich Verständnis für einen Besuch bei der Dicken Margot, wie Ihr wohl wisst.« Während er sprach, trat er näher, ließ seinen Blick prüfend durch den Raum schweifen und betrachtete
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