Im Schatten von Notre Dame
eingetragen. Als wir das herausfanden, sandte der Profos einen Trupp der Scharwache aus, ihn festzusetzen. Aber sein Haus war leer, Cenaine ebenso verschwunden wie seine Tochter. Als wir in den umliegenden Häusern nachfrag-ten, erfuhren wir, daß nur eine Stunde zuvor Scharwächter das Haus gestürmt und Cenaine verhaftet hätten. Von seiner Tochter hatte niemand etwas gesehen.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn die Scharwache diesen Cenaine festgenommen hat, muß er sich doch in Eurem Gewahrsam befinden.«
»Die Männer nannten sich Scharwächter und trugen auch den violetten Waffenrock, aber sie kamen nicht vom Châtelet.«
»Ein seltsamer Zufall, daß sie fast zeitgleich mit den richtigen Scharwächtern kamen.«
»Falls es ein Zufall war.«
»Etwas anderes hieße, am Châtelet einen Verräter zu vermuten.«
»Ihr seid überaus scharfsinnig, junger Freund.« Falcones Miene war noch säuerlicher als zuvor. »Ihr dürft mir glauben, daß dieser Gedanke niemanden am Châtelet erfreut, am allerwenigsten den Profos. Aber nach Lage der Dinge kann sich Messire d’Estouteville einer solchen Annahme nicht verschließen, und deshalb hat er mich beauftragt, Licht ins Dunkel zu bringen.«
»Also vertraut er Euch.«
»Das hoffe ich doch!«
»Und Ihr nutzt die Morde als Vorwand, um Eure eigentlichen Nachforschungen ungehindert betreiben zu können.«
»Richtig erkannt. Aber glaubt nicht, daß der Schnitter mir gleichgültig sei. Ob er nun zu den Falschmünzern gehört oder nicht, seinem Treiben muß schleunigst ein Ende bereitet werden!«
»Ganz meine Meinung«, sagte ich, erzählte ihm aber dennoch nicht von der Zeichnung des Spielmanns. Mich zum Verbündeten der Polizei zu machen hätte geheißen, mich mit hoher Wahrscheinlichkeit der Entlarvung durch Gilles Godin auszusetzen. »Ihr seid sehr freimütig in Euren Äußerungen, Leutnant Falcone. Darf ich daraus schließen, daß ihr mich nicht für einen Verbündeten der Falschmünzer haltet?«
»Falls Ihr einer seid, habe ich Euch nichts Neues erzählt. Dann aber hättet Ihr mir einiges zu erzählen und solltet es auch tun. Ertappte Kipper und Wipper nehmen nämlich ein sehr unangenehmes Ende. Man taucht sie in siedendes Öl, selbstverständlich bei lebendigem Leib.«
»Selbstverständlich«, wiederholte ich in dem Bemühen, ungerührt zu erscheinen.
»Ich hielt es für gut, Euch in die Sache einzuweihen«, sagte Falcone, bevor er sich verabschiedete. »Zwar weiß ich noch nicht wie, aber auf irgendeine seltsame Weise seid Ihr in diesen Fall verstrickt, mögt Ihr nun wollen oder nicht.«
Kapitel 9
Totentanz
Innerhalb der kalten Friedhofsmauern, zwischen den mit bleichen-den Knochen gefüllten Gebeinhäusern, flogen Geschrei, Gelächter, Musikfetzen, flogen Arme, Beine und ganze Leiber hin und her. Die Toten tanzten, und wenn nicht sie, dann diejenigen, die einst welche sein würden. Verfaulen und zu blanken Knochen schmelzen ist das Schicksal des Bettlers wie des Königs. Lachten die Menschen im Hohn über dieses Schicksal oder aus Angst davor – aus Furcht, der nächste zu sein, dem der Sensenmann mit dem Totenschädelgrinsen auf die Schulter schlug? Verwegene Menschen, die hier, angesichts Tausender und Abertausender Toter, so laut zu leben wagten. Oder Verzweifelte.
Die Ermahnungen erleuchteter Pilger und die Predigten hungerge-plagter Bettelmönche verhallten ungehört.
Ich war entsetzt und berauscht, angewidert und gebannt, schwebte beständig in Gefahr, mich von der Ausgelassenheit der künftigen Toten anstecken zu lassen. Einige sahen aus, als halte Gevatter Tod sie schon in den Klauen. Brand fraß ihr schwarzes Fleisch, Eiter quoll aus offenen Wunden, Knochen stießen durch gelbliche Haut. Andernorts ausgestoßen, waren die Siechen hier willkommene Tänzer und Musikanten, wurden angefeuert, bestaunt, belacht im Taumel freudloser Lustbarkeit. Einem solchen Schauspiel, undenkbar auf dem Friedhof von Sablé, hatte ich nie zuvor beigewohnt.
Unversehens fand ich mich eingekreist von einem lauten Reigen, der einem buntgescheckten Flötenspieler folgte. Wie ein gefangener Frosch, dem grausam-unschuldige Kinder einen Krug übergestülpt hatten, sprang ich vergeblich vor und zurück, von links nach rechts und von rechts nach links, um dem jauchzenden Kreis der im Flöten-takt aufstampfenden Tänzer zu entwischen. Ekstatisch warfen sie ihre Leiber vor und zurück, und viele der Frauen, junge wie ledrige alte Vetteln, entblößten dabei ihre Brüste. Schrille
Weitere Kostenlose Bücher