Im Schatten von Notre Dame
meinigen. Er riß mich zu Boden und kam schwer auf mir zu liegen.
Seltsamerweise regte er sich nicht, unternahm keinen weiteren Versuch, mir die Klinge in den Leib zu rammen. Ich bemerkte seinen starren, leblosen Blick und schließlich auch den Pfeil, der tief in seinem Rücken steckte. Blut floß aus der Wunde, rot wie das Tatzenkreuz, mit dem es sich vereinigte.
Der zweite meiner drei Feinde stieß ein dumpfes Gurgeln aus und sackte in die Knie. Der Dolch entglitt seiner Hand. Er griff sich an den Hals, durch den ein Pfeil gefahren war, als habe er noch Hoffnung, das Verderben bringende Geschoß herausziehen zu können. Dann kippte er zur Seite und rührte sich nicht mehr.
Wilde Angst lag im Gesicht des letzten Templers. Der unheimliche Feind schlug schnell und unerbittlich zu, ohne daß er selbst zu erkennen war. Ich sah in den weit aufgerissenen Augen meines Häschers, wie verzweifelt er nach dem Bogenschützen suchte. Bis eins der Augen von einem Pfeil durchbohrt wurde und auch dieser Mann zu Boden ging. Tot, wie ich wohl annehmen durfte. Ich sah die Getöteten einen nach dem anderen an und bemerkte, daß die Federn an den Pfeilschäften von stahlblauer Farbe waren.
Ich suchte nicht nach meinem Retter und auch nicht nach der Gelegenheit, ihm zu danken. Zum einen waren immer noch Templer hinter mir her, zum anderen konnte es durchaus sein, daß der Bogenschütze zwar ein Feind der Weißkutten war, aber durchaus nicht mein Freund. Also rannte ich vom Fluss fort und fühlte mich erst sicher, als ich den trotz der späten Stunde noch belebten Vorplatz der Kathedrale erreichte.
Im Licht eines Fensters blieb ich stehen und starrte auf das runde Stück Bronze in meiner Hand. Unbeabsichtigt hatte ich es dem rot-haarigen Templer beim Kampf entrissen. Es war die Spange, die seinen Mantel unter dem Kinn zusammengehalten hatte. Sie war auf beiden Seiten mit einer Abbildung versehen. Die Vorderseite zeigte zwei lanzenbewehrte Ritter, die sich ein Pferd teilten: das Ordenssiegel der Templer. Auf der Rückseite ringelte sich ein Drache oder eine Schlange, um sich in den eigenen Schwanz zu beißen. Schlagartig sah ich den sterbenden Oblaten vor mir und dachte an die seltsame Holzfigur.
DRITTES BUCH
Kapitel 1
Regen, Rauch und Ratten
Wenn das Ergebnis Eurer Arbeit so beeindruckend ist wie Euer Eifer, werde ich sehr zufrieden sein.« Düster stand Dom Claude Frollo in der offenen Tür meiner Zelle. In dem Sturm, der über den Dächern von Paris tobte und die Türme von Notre-Dame mit unabläs-sigem Pfeifen und Brausen umtoste, wehte sein schwarzer Rock. Mir schien es wie der Flügelschlag eines Unglücksbringers, eines riesigen Raben. Aus den tiefen Augenhöhlen erfasste mich ein funkelnder Blick, der mich an die Smaragdaugen des maskierten Großmeisters gemahnte.
Ich hatte den Archidiakon nicht kommen hören. Vor Schreck schlug ich nun Gringoires Kometenbuch zu. Mich damit zu beschäftigen war zwar meine Aufgabe, doch tat ich es an diesem Tag aus anderen Gründen. Frollo sollte nicht sehen, welche Stelle ich aufgeschlagen hatte. Bei dem am Abend zuvor erlauschten Gespräch hatte Jacques Charmolue den Mann erwähnt, den der Komet von 1465 in den Wahnsinn getrieben haben sollte. Danach suchte ich.
Frollo zog die Tür hinter sich zu und trat näher. Regentropfen glitzerten auf dem kahlen Schädel, andere hatten sich in dem windzer-zausten dünnen Kranz ergrauter Haare verfangen. Er mußte sich eine ganze Weile draußen auf dem Turm aufgehalten haben. Vor meiner Zelle? Um mich zu belauschen, zu beobachten? Hegte er einen Verdacht gegen mich? Ahnte, wußte er, wen er und seine Gefolgsleute gestern vergeblich gejagt hatten?
Mein Blick huschte zum Bettkasten, in dem ich meine seltsamen Fundstücke verwahrte: Avrillots Holzfigur, die Zeichnung des Italieners und die Spange des toten Templers, der fast mein Mörder geworden wäre.
Als ich Frollos Hand auf meiner Schulter spürte, erschauerte ich, und ein widerwilliges Zucken lief durch meinen Leib. Oder war es ein Frösteln? Obwohl das Feuer im Kamin knackte und prasselte, fror ich, seit der Archidiakon die Zelle betreten hatte, als sei er der Sturm, der Regen und die Kälte.
Dom Claude sah besorgt auf mich herab. »Ihr scheint ein wenig überreizt, mein Bester. Auch wenn mich Euer Eifer stolz und froh macht, solltet Ihr Eure Nase nicht nur in die Bücher stecken. Ihr seid schließ-
lich kein Mönch. Geht einmal hinaus, streift durch die Gassen von Paris, genießt das
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