Im Schatten von Notre Dame
wurde erstmals ein Vol kommener, der den Zustand der Reinheit erreicht hatte, in Castres verbrannt. Zwei Jahre später in Lavaur brannten schon vierhundert Vol kommene, und achtzig Ritter, die auf unserer Seite standen, wurden gehenkt. Die Herrin von Lavaur, auch eine Vol kommene, warf man in einen Brunnen; dann ließ man Steine auf sie fal en, bis sie tot war. Der Bluthund Montfort fiel anno 1218 bei der Belagerung von Toulouse, doch ein Jahr darauf setzte Prinz Ludwig mit zwanzig Bischöfen, dreißig Grafen, sechshundert Rittern und zehntau-send Bogenschützen den zerstörerischen Kreuzzug fort. 1226 führte er, inzwischen als Ludwig VIII. zum König von Frankreich gekrönt, einen weiteren Zug gegen den Süden, nur vorgeblich im Namen Gottes, in Wahrheit aber, um Land und Macht zu erringen.«
Der Geistermönch hatte immer schneller gesprochen, erregt, hitzig, bis ihn ein heftiger Hustenanfall unterbrach und beinahe vom Stuhl warf. Als er sich beruhigt hatte, fragte ich: »Wenn die Guten Menschen ihre sündige fleischliche Hülle so sehr verabscheuen, ist dann der Tod nicht eine Erlösung für sie? Müßten sie nicht den Freitod suchen, um ihre Seele zu befreien?«
»Das haben einige getan. Viele gingen erhobenen Hauptes zum Scheiterhaufen, singend und lachend. Aber so einfach ist es nicht. Die Seele eines Toten kehrt nicht unmittelbar in den Himmel zurück. Luzifer war klug, Satan ist verschlagen. Er schuf das beste Mittel, um die gequälten Seelen festzuhalten: den Fortpflanzungstrieb des Menschen.
Mit jedem Kind, das auf diese Welt kommt, hat das Böse ein neues Ge-fängnis geschaffen, um die Seele eines Verstorbenen aufzunehmen.«
»Also gibt es keine Erlösung?«
»Doch! Wir müssen uns selbst erlösen, jeder Mensch, jede Seele für sich. Wer sich vom Bösen abwendet und dauerhaft den Zustand der Reinheit erreicht, der kehrt zurück an Gottes Seite.«
»Eine angenehme Aussicht für Euch wie für Eure Brüder und Schwestern. Bloß – was habe ich mit all dem zu tun, was Dom Frollo und die Kathedrale von Notre-Dame? Und wer, zum Satan oder Luzifer, seid Ihr?«
»Ich bin nur der Bischof dieser armen Gemeinde, die sich in Paris zusammengefunden hat, um das Geheimnis des Sonnensteins zu bewahren.«
»Ach ja, dieser Sonnenstein. Was hat es damit auf sich?«
»Als Gott Luzifer die Krone der Schöpfung entriss, brach ein Stein heraus, ein Smaragd. Wer sein Geheimnis kennt, kann mit der Kraft der Sonne die Erschaffung der stofflichen Welt rückgängig machen, den Dualismus von Geist und Stoff wiederherstellen.«
»Das bedeutet …«
»Die Zerstörung dieser Welt und aller auf ihr lebenden Menschen –
auf einen Schlag!«
»Nur Gott könnte das.«
»Nicht Gott, Satan.«
»Warum sollte er die Welt zerstören, die er geschaffen hat?«
»Er würde sich damit aus dem Gefängnis befreien, das die Welt für ihn bedeutet.«
»Aber das wäre doch prächtig für Euch. Damit wärt Ihr alle Sorgen um das sündhafte Fleisch los.«
»Narr!« schrie der Geistermönch und fuhr aus seinem Stuhl hoch.
»Dummer, geschwätziger Narr! Es wäre nicht die Erlösung, sondern die Zerstörung der verirrten Seelen. Ihnen wäre die Möglichkeit der Bewährung, der Rückkehr in den Himmel auf ewig genommen.« In einer taumelnden Bewegung als habe er seine Glieder nicht mehr in der Gewalt, breitete er die Arme aus. »Die ganze Menschheit wäre verdammt!«
In seiner Erregung trat er ins Licht des Kaminfeuers, und die Kapuze rutschte von seinem Haupt. Was sie enthüllte, ließ mich vor Schreck die Augen zusammenkneifen. Dieses unterirdische Labyrinth mußte die Hölle sein – und mein Gegenüber der Leibhaftige!
Kapitel 4
Der Sonnenstein
Ich muß wie ein Schwachsinniger ausgesehen haben, wie ich da mit geschlossenen Augen auf dem Schemel saß. Wie ein kleines Kind, das nur für wirklich hält, was es sieht. Es verschließt die Augen vor dem Schrecklichen und erwartet, daß der furchteinflößende Anblick gleich einem Alptraum verschwunden ist, wenn es die Augen wieder öffnet. – Mein Alptraum war nicht verschwunden.
Ich blickte nicht in ein Gesicht, sondern in eine Fratze. Wenn Satan, der gefallene Engel, ein Antlitz besaß, mußte es so aussehen. Nicht schief und krumm und aus der Form geraten wie die Grimasse des buckligen Glöckners, aber nicht weniger unmenschlich und dämonisch.
Hasste der Geistermönch alles Fleischliche so sehr, daß er es aus seinem Angesicht geschnitten hatte? Genauso wirkte es. Die schwärzliche
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