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Im Schatten von Notre Dame

Titel: Im Schatten von Notre Dame Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joerg Kastner
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Haut war, wie die Hand, die ich kurz zuvor gesehen hatte, kreuz und quer von Narben gespalten. Die dünne Oberlippe wurde von einer rissigen Kerbe geteilt. Einige Narben kreuzten sich, türmten sich zu wulstigen Hügeln, neben denen tiefe Risse wie Schluchten verliefen.
    Die verunstaltete Haut spannte sich derart über die Knochen, daß sie jeden Augenblick von ihnen durchstoßen zu werden drohte. Als habe jemand einen Totenschädel zwar mit einer dünnen Haut überzogen, sämtliches Fleisch aber vergessen.
    Gesteigert wurde dieser Eindruck durch die gänzliche Nacktheit des Kopfes. Kein Haupthaar, kein Bart, keine Brauen – nichts. Wer immer für die Verheerung dieses Schädels verantwortlich war, er hatte auch vor den Ohren nicht haltgemacht. Das linke wies nur einen tiefen Riß auf, das rechte aber war zerfranst wie ein mottenzerfressenes Hemd; teilnahmslos, als seien sie überflüssig, hingen die Hautlappen am Kopf. Und tatsächlich stellte ich später fest, daß ihr Besitzer beim Zuhören das linke Ohr nach vorn schob, das rechte also nicht mehr oder kaum noch gebrauchen konnte. Unter der gewölbten Stirn blickten mich dunkle Augen traurig an. Die Augen eines Menschen, der schon viel zuviel Leid gesehen hatte.
    Schwer atmend trat er zurück und sank wieder auf den Stuhl. Die Schatten des Zwielichts verhüllten das schreckliche Antlitz, und ich war dankbar dafür.
    »Verzeiht meine Erregung«, sagte er leise. »Ich sollte bedenken, daß dies alles sehr viel für Euch ist. Bruder Donatus hat Euren Unterricht bestimmt nicht auf den ketzerischen Glauben ausgerichtet.«
    Jetzt war es an mir, erregt aufzuspringen. Atemlos stammelte ich:
    »Woher wisst Ihr das? Wieso kennt Ihr den Namen des Bibliothekars und Lehrers der Abtei Sablé?«
    Ich sah den stets gebückt gehenden Mönch mit dem weizengelben Haarkranz vor mir, der sich jahrelang eifrig bemüht hatte, den Bastard Armand Sauveur im rechten Glauben zu unterweisen und ihm das Tri-vium der Grammatik, Rhetorik und Dialektik beizubringen. Im Qua-drivium der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik hatte er sich allerdings auf die Vermittlung von Grundkenntnissen beschränkt.
    Sablé war eine kleine Abtei, und hochgebildete Mönche zog es zu grö-
    ßeren, angeseheneren Klöstern. Die Söhne der hervorragendsten Bürger von Sablé, die in der Abtei unterrichtet wurden, waren es zufrieden, sich nicht noch mehr Wissen in den Schädel stopfen zu müssen.
    Im Grunde waren sie alle Bauern und wußten nicht recht, wozu ihnen die sieben freien Künste nutzen sollten. Auch in dieser Hinsicht war ich stets ein Außenseiter. Da ich kein Geschäft, kein Land und schon gar kein Vermögen erben würde, strengte ich mich im Unterricht an.
    Nur durch das, was ich lernte, konnte ich es zu etwas bringen, denn ich hatte noch nicht einmal einen Vater.
    In diesem unterirdischen Gemäuer, weit weg von Sablé, spürte ich, daß ich dem Geheimnis meiner Herkunft näher war als jemals zuvor.
    Der Geistermönch mußte etwas darüber wissen, wenn er Bruder Donatus kannte. Ich wiederholte meine Frage.
    »Eins nach dem anderen«, erhielt ich zur Antwort. »Bruder Donatus sollte Euch beigebracht haben, daß man nicht zwei Dinge gleichzeitig lernen kann. Eben waren wir noch bei Himmel und Hölle, jetzt weilt Euer Geist in Sablé. Wohin zieht es Euch mehr?«
    »In die Hölle gewiß nicht«, brummte ich missgestimmt und setzte mich wieder. »Also gut, erzählt mir mehr von diesem Sonnenstein, bevor wir von Sablé sprechen. Der Smaragd aus Luzifers Krone scheint Euch sehr am Herzen zu liegen.«
    »Allerdings. Wir müssen ihn finden, bald, und Ihr müßt mir dabei helfen, Armand!« Es schien im wirklich dringend zu sein; ich hör-te, wie seine hohle, ein wenig rasselnde Stimme zitterte. »Wir müssen den Sonnenstein aufspüren, bevor unsere Feinde ihn in Händen halten.«
    »Wer sind Eure Feinde? Vermutlich die Vertreter der Inquisition.«
    »Die auch, aber sie sind nicht die gefährlichsten. Sie wollen nur unsere Leiber verbrennen, nicht aber die ganze Welt. Die das beabsich-tigen, ich schäme mich fast dafür, sind Leute von unserem Glauben, Leute, die sich auch Gute Menschen nennen, in Wahrheit aber dem Bösen dienen.«
    »Meint Ihr damit etwa Dom Frollo?«
    »Er ist einer von ihnen und nicht der Geringste.«
    »Wieso streitet Ihr gegen Eure eigenen Leute?«
    »Sperrt Eure Ohren auf, Armand! Eben erklärte ich Euch, daß sie dem Bösen dienen, wenn viele von ihnen es auch nicht wissen, in gutem

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