Im Schattenwald
gestohlen und in den Wald gebracht! Und Gott allein wusste, was sie mit Henrik getan hatten.
Ich war total verzweifelt und wusste nicht, was ich tun sollte. Nachts lag ich wach und malte mir aus, was ihm im Wald zugestoßen sein könnte. Doch versuchte ich trotz allem, die Fassung zu bewahren.
Ich weiß, was du jetzt denkst, Samuel. Du fragst dich bestimmt, ob ich nicht selbst in Versuchung geriet, ihm in den Wald zu folgen. Und ich kann dir sagen, dass ich mehr als
einmal meinen Rucksack gepackt, meine Stiefel geschnürt und meinen Speer gepackt habe, um ihn zu suchen.
Doch jedes Mal wenn ich über die Wiese ging, auf der sich keine Ziegen mehr befanden, hatte ich das Gefühl, dass mich etwas zurückhielt. Dann erinnerte ich mich daran, dass er mich gebeten hatte, im Haus zu bleiben, und hatte wieder seine letzten Worte im Ohr: ›Was auch geschehen mag - ich werde immer den Weg zu dir zurückfinden.‹ Vielleicht war es meine eigene Schwäche. Vielleicht hatte ich zu viel Angst. Doch ich war einfach nicht in der Lage, in den Wald zu gehen.
Also blieb ich im Haus und versuchte, mich mit Lesen oder Stricken oder anderen Dingen abzulenken. Ich fühlte mich einsam und vermisste jemanden, der mir Gesellschaft leistete. Irgendjemand muss dann meine Bitte erhört haben, denn eines Tages lag auf der Wiese vor meinem Haus ein herrenloser Hund. Richtig, das war Ibsen. Er konnte Onkel Henrik natürlich nicht ersetzen, doch seine Gesellschaft war definitiv besser als die einer Ziege. Außerdem gab er mir ein Gefühl der Sicherheit. Er beschützte mich vor den Trollen.
Mit der Zeit wurden die schrecklichen Fantasien, was ihm im Wald zugestoßen sein könnte, durch angenehmere Gedanken ersetzt. Ich erinnerte mich daran, wie er auf seinen Skiern durch die Luft geflogen war oder beim Geruch des ›Goldmedaillenkäses‹ gelächelt hatte.
Natürlich wäre es leichter gewesen, hätte ich nicht jeden Tag diese schrecklichen dunklen Bäume sehen müssen. Doch ich werde mein Haus nicht verlassen und den Wald niemals betreten und jetzt habe ich ja dich und Martha. Was für ein Team, nicht wahr? Ibsen, Samuel, Martha und die alte Tante Eda.«
Samuel sah, dass seine Tante mit den Tränen kämpfte. Er nippte mehrmals an seinem Moltebeersaft, als wolle er einen schlechten Geschmack loswerden.
Trolle und Huldren und hundert andere Geschöpfe, die im Wald hinter dem Haus lebten … Das war kaum zu glauben und er tat es auch nicht. Jedenfalls nicht voll und ganz. Was bewiesen schon Fußspuren im Schnee? Und warum sollte irgendjemand einem verrückten Professor Glauben schenken?
Doch dann erinnerte er sich an seine eigene Angst, als er zum düsteren Wald hinübergeblickt hatte, und trank den Rest seines Safts.
»Jetzt weißt du Bescheid«, sagte Tante Eda.
»Ja«, entgegnete Samuel, obwohl er sich da nicht so sicher war.
Er ging zu seiner Schwester ins Wohnzimmer. Sie starrte aus dem Fenster, dem Wald entgegen.
»Martha«, sagte er.
Sie drehte sich zu ihm um.
»Martha …«
Doch er wusste nicht, was er sagen sollte.
Nachtgesänge
S amuel wurde mitten in der Nacht durch ein Singen geweckt. Es war nur ein leises Geräusch, doch da er nicht tief geschlafen hatte, öffnete er sogleich seine Augen und fragte sich, was das war.
Er lag im Dunkeln und lauschte auf die Stimme, hörte aber nur das sanfte Plätschern des Regens gegen das Fenster. Er drehte sich auf die Seite und sah die dunkle Gestalt seiner Schwester, die tief und traumlos schlief.
Da hörte er es wieder. Das Singen.
Ich kannte einen Baum
ihr glaubt es kaum
der sprach wie ich und du
der quasselte in einem fort
und plapperte an jedem Ort
doch keiner hörte ihm zu
Es klang so vertraut wie ein Kinderlied, das Mum und Dad immer gesungen hatten. Auch die Stimme kam ihm bekannt vor. Und die Sprache. Samuel schlug die Decke zurück und ging zum Fenster. Spähte durch die Vorhänge in die dunkle, regnerische Nacht und konnte anfangs nichts erkennen. Alles war so tiefschwarz wie der Himmel.
Doch nach einer Weile, als sich seine Augen an das fahle Mondlicht gewöhnt hatten, konnte er verschiedene Abstufungen der Dunkelheit wahrnehmen. Das undurchdringliche Dunkel des Waldes und das geringfügig hellere Gras des Abhangs davor. Von dem Geräusch geleitet, suchten seine Augen das Gras ab, bis er eine kleine, gedrungene Gestalt sah, die, wie ein laufendes Fass, auf das Haus zuging. Eine Kreatur. Aus dem Wald. Er öffnete das Fenster, um die Stimme der Kreatur besser
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