Im Schattenwald
ankämpfte.
Tatsächlich schenkte sie allen Dingen, die ihre Augen sahen, gleich wenig Aufmerksamkeit. Seit dem Tod ihrer Eltern schien ihr alles sinnlos geworden zu sein. Warum sollte sie überhaupt noch irgendwas tun? Wozu sollte das gut sein? Irgendwann mussten sie alle sterben, was spielte es da für eine Rolle, ob der Tod früher oder später kam? Sie wusste, dass manche Leute - so wie Tante Eda - in der Lage waren, ihre innere Trauer durch Lächeln und Worte zu überspielen, doch Lächeln und Worte gehörten jetzt einer anderen Welt an.
Einer Welt, die ihr selbst für immer verschlossen bleiben würde.
Also öffnete sie auch nicht das Fenster, um ihrer Tante Bescheid zu sagen, als sich das Bettlaken, das diese in den Korb gelegt hatte, wie ein Ballon mit Luft füllte und nach oben stieg.
Erst als Tante Eda die letzte lange Unterhose von der Leine genommen hatte und sich umdrehte, erblickte sie das rebellische Bettlaken. Sie stopfte die Unterhose in den Korb und nahm die Verfolgung auf, während das Bettlaken auf- und niederstieg und in Richtung Wald über das Gras wirbelte.
Martha beobachtete, dass auch andere Wäschestücke bei weiter auffrischendem Wind aus dem Korb geweht wurden. Und es dauerte nicht lange, bis sich die gesamte Wäsche auf den Weg machte, über Tante Edas Kopf hinweg- oder an ihr vorbeiflog, den Bäumen entgegen.
Unterhemden, lange Unterhosen, Pullover, Strickjacken, Wollsocken, alles wirbelte durch die Luft, flatterte empor und fiel wieder zu Boden - wie Vögel mit verletzten Flügeln.
Tante Eda bekam ein paar Socken, ein Unterhemd und einen Pullover zu fassen. Dann sah sie, wie das Bettlaken nur wenige Schritte vom Wald entfernt liegen geblieben war. Sie lief ihm entgegen, während sie mit dem linken Arm die eingefangenen Wäschestücke gegen ihre Brust presste. Als sie das Laken erreicht hatte, streckte sie sogleich ihren Arm aus - ihren Speerwurf-Arm -, doch als sie es gerade packen wollte, entkam ihr das weiße Baumwolltuch erneut, als antworte es auf den Ruf des Windes.
Tante Eda machte ein paar Schritte nach vorne, während sie weiter krampfhaft das Wäschebündel festhielt, blieb jedoch abrupt stehen, als das Laken vom Dunkel des Waldes verschluckt wurde.
Martha beobachtete, wie ihre Tante die Bäume anstarrte.
Entweder war Tante Eda nicht in der Lage oder nicht willens, die Wäschestücke zurückzuholen, die bereits hinter den mächtigen Stämmen verschwunden waren. Und erst in diesem Moment - als Martha sich daran erinnerte, welche Ängste der Wald bei ihrer Tante heraufbeschwor - begann sich das zehnjährige Mädchen am Fenster für die Vorgänge da draußen zu interessieren. Während ihre Tante zum leeren Korb und der Wäscheleine zurückging, starrte Martha wie gebannt auf das Dunkel zwischen den Bäumen.
Der Anblick war wunderschön.
Wunderschön und seltsam verlockend und so anders als das sinnlose Lächeln und die sinnlosen Worte, von denen sie seit dem Tod ihrer Eltern umgeben war.
Etwas an dem undurchdringlichen Dunkel zwischen den Bäumen schien sie unmittelbar anzuziehen - in einer Welt des verlogenen Lächelns erschien ihr die Dunkelheit genauso unwiderstehlich wie ein kühles Schwimmbecken an einem heißen Sommertag.
Während Martha aus dem Fenster starrte, schlug Samuel ein Stockwerk darüber die erste Seite von Die Geschöpfe des Schattenwalds auf und begann zu lesen:
Es gibt einen Ort, den kein Mensch je betreten darf. Einen Ort, an dem das Böse viele Gesichter hat. Wo Geschöpfe aus Mythen und Legenden leben und atmen. Und töten. Ein Ort jenseits aller Träume und Albträume - ein Ort von so unsagbarem Schrecken, dass er keinen Namen trägt. In diesem Buch will ich das Unerklärbare erklären und dem Schrecken einen Namen geben, der ihm gerecht wird. Sein Name soll »Schattenwald« sein und er wird euer Herz mit Furcht erfüllen.
Samuel schluckte. Seine Handflächen waren feucht. Dann blätterte er um und begann, von den Kreaturen seiner Albträume zu lesen.
Das Volk der Huldren
Beim Volk der Huldren handelt es sich um Geschöpfe in Menschengröße, die ihr Leben weitgehend unter der Erde verbringen. Sie haben knochige Körper, lange Schwänze und Klauen statt Fingernägeln. Ihre Nasen sind wulstig, ihre Augen stehen weit auseinander, ohne jemals zu zwinkern oder eine Träne zu vergießen. An die Oberfläche kommen sie nur bei Dunkelheit - um Calooshes zu jagen, flüchtende Kreaturen einzufangen und verurteilte Gefangene zur Lichtung zu
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