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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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gewesen, hätte niemand entscheiden können, wo der Anzug aufhörte und die Haut begann.
    Auf dem nächsten Foto flog ein Mann auf Skiern durch die
Luft. Eine andere Aufnahme zeigte denselben Mann vor einem großen Block braunem Käse.
    Samuel betrachtete noch einmal das Foto im Schnee und hatte das merkwürdige Gefühl, diesen Mann erst gestern gesehen zu haben. Seine lachenden Augen schienen ihm ebenso vertraut zu sein wie die von Tante Eda. Natürlich wusste er, dass es sich um Onkel Henrik handeln musste, doch der Grad der Vertrautheit war äußerst merkwürdig. Er hatte seinen norwegischen Onkel doch erst einmal im Leben gesehen, als er zwei Jahre alt gewesen war. Bis gestern hatte er auch das nicht gewusst und nie zuvor ein Foto von ihm zu Gesicht bekommen.
    Doch Samuel war sich ganz sicher - so sicher, wie man bei solchen Dingen nur sein kann -, dass er erst kürzlich in die Augen dieses Manns geblickt hatte.
    Das kann doch nicht sein , dachte er.
    Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und sah etwas hinter der Truhe an der Wand liegen. Es waren dieselben Skier wie auf dem Foto. Dann entdeckte er an einer anderen Wand einen kleinen gläsernen Kasten, in dem sich die Silbermedaille seines Onkels befand.
    Als Samuel sie näher in Augenschein nehmen wollte, fiel ihm eine weitere Truhe auf, über der eine alte Tischdecke hing, als wolle sie etwas verbergen. Von all den Kisten und Truhen in diesem Raum gab es nur eine, die auf diese Weise verborgen war.
    Neugierig geworden wollte er die Decke entfernen, zuckte jedoch plötzlich zusammen, als ein Windstoß die kleine Scheibe erzittern ließ.
    Er wusste gar nicht, warum er so schreckhaft war. Vielleicht aufgrund seiner Erlebnisse der letzten Nacht. Oder wegen des eigenartigen Gefühls, das ihn beim Betrachten der Fotos beschlichen hatte.

    Samuel wusste indes, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis ihn Tante Eda dabei ertappen würde, auf dem Dachboden herumzuschnüffeln. Er schloss die Augen und zog so schnell an der Decke, als wäre er ein Zauberer, der das Tischtuch unter einem Teeservice hervorzieht.
    Er öffnete die Augen und spürte sofort die Enttäuschung. In der Truhe lagen nur Bücher, die zudem völlig uninteressant aussahen. Es waren alte Bücher mit langweiligen Umschlägen ohne Bilder. Alle in Norwegisch geschrieben.
    Samuel hatte seit dem Tod seiner Eltern kein Buch mehr gelesen, obwohl er es versucht hatte. Ihre Nachbarin, Mrs Finch, die sich bis zu ihrem Abflug nach Norwegen um sie gekümmert hatte, meinte, er solle etwas lesen, um auf andere Gedanken zu kommen. Doch Samuel konnte bislang nicht genug Konzentration aufbringen, um auch nur einen einzigen Satz zu Ende zu lesen. Seine Gedanken waren immer noch so sehr mit dem Autounfall beschäftigt, dass seine Augen an den Wörtern abglitten wie Füße auf einem vereisten Bürgersteig.
    Er nahm die Bücher heraus und las die Titel auf den Buchrücken.
    Niflheim og Muspellsheim
    Ultima Thule
    Ask og Embla
    Æsir
    Peer Gynt
    Dann entdeckte er ein weiteres Buch, das unter all den anderen verborgen war. Es lag auf dem Boden der Truhe, und Samuel musste seinen Arm ganz ausstrecken, um es zu erreichen.
    Es war ungewöhnlich schwer - schwerer, als seine Größe vermuten ließ -, als wögen seine Wörter mehr als in anderen Büchern. Der Umschlag war in einem matten Grün gehalten,
wie Gras im Märznebel, doch aus unerfindlichen Gründen wirkte es interessanter als die anderen Bücher.
    Samuel besah sich den Buchrücken und spürte, wie ein Schauer über seinen Rücken lief, während der Wind weiter gegen die Hauswand schlug.
    Dieses Buch trug einen Titel, den er sehr wohl verstand: Er lautete Die Geschöpfe des Schattenwalds , geschrieben von Professor Horatio Tanglewood.

Die faszinierende Dunkelheit
    W ährend ihr Bruder auf dem Dachboden herumschnüffelte, schaute Martha aus dem Schlafzimmerfenster und sah zu, wie ihre Tante die Wäsche von der Leine nahm.
    Der böige Wind wehte ihr die Hemden, Hosen und Pullover immer wieder ins Gesicht. Ein Bettlaken wickelte sich vollkommen um sie herum - wie eine innige Umarmung zum Abschied -, ehe sie das widerspenstige Tuch in den Wäschekorb drückte.
    Was Martha wohl dachte, während sie aus dem Fenster im ersten Stock schaute? Gleichgültig ob man zehntausend Meilen entfernt oder im selben Raum mit ihr war - niemand hätte zu sagen gewusst, was hinter diesen dunkelbraunen Augen vor sich ging, während sie beobachtete, wie ihre Tante gegen den Wind

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