Im Schattenwald
diesen Griff, Martha?«, fragte Tante Eda, wartete jedoch nicht auf eine Antwort. »Er ist aus dem Geweih eines Rentiers gemacht.«
Samuel seufzte und musste an den Anblick der Huldren denken. »Wen interessiert das schon?«
Tante Eda ignorierte sein eingeschnapptes Gesicht, das die Frage begleitete. »Nun, ich denke, dem Rentier wird es nicht egal gewesen sein«, entgegnete sie.
Sie lächelte, als hätte sie einen Witz gemacht, doch ihr Blick war voller Angst.
»Ich mag keinen Ziegenkäse«, sagte Samuel. »Der von Kühen ist mir lieber.«
Tante Eda legte mit zitternden Händen fünf dünne Scheiben Ziegenkäse auf seinen Teller neben das Flachbrot. »In
diesem Teil Norwegens gibt es aber nun mal Ziegen und keine Kühe, junger Mann.«
Sie gab Martha dieselbe Menge Käse und Flachbrot. Samuel beobachtete, wie seine Schwester ohne jedes Zeichen von Wohlgefallen oder Widerwillen zu essen begann. Dann blickte er aus dem Esszimmerfenster auf die Wiese, die zum Wald führte, und dachte mit Schaudern an die arme Kreatur, die von den angreifenden Huldren gefangen genommen worden war.
Einmal mehr verscheuchte er diese Gedanken und widmete sich seinem Frühstück.
Hätte ein Fremder in den folgenden fünf Minuten beobachtet, wie Samuel sein Frühstück verzehrte, wäre er womöglich auf den Gedanken gekommen, bei dem stillen jungen Mann handele es sich um den wohlerzogensten Zwölfjährigen auf Erden. Hätte er allerdings scharfe Augen gehabt - schärfere als Tante Eda -, dann wäre ihm auch aufgefallen, dass Samuel ausschließlich das Brot aß. Denn bevor er davon abbiss, ließ er durch eine kurze Drehung seines Handgelenks den Käse auf seinen Schoß fallen. Mit der unter dem Tisch verborgenen Hand stopfte er sich die Käsescheiben einfach in die Tasche. Dann lächelte er zufrieden, weil er soeben gegen Tante Edas fünfte Regel verstoßen hatte.
»Ich geh nachher auf den Dachboden rauf«, sagte er zu seiner Schwester, als sie im ersten Stock auf ihren Betten saßen.
Martha schüttelte den Kopf.
»Wenn sie die Wäsche aufhängt, will ich sehen, was da oben so Besonderes ist, das sie uns nicht zeigen will.« Samuel war fest entschlossen, mehr über den Wald herauszufinden, vor allem nach den Vorkommnissen der letzten Nacht, und er war sicher, auf dem Dachboden irgendwelche Hinweise zu finden.
Martha schüttelte erneut den Kopf und schien für einen Moment ernsthaft besorgt zu sein.
»Doch«, sagte Samuel, »ich werde auf den Dachboden gehen.«
Als Samuel seine Tante draußen bei der Wäscheleine hörte, ging er zum Treppenabsatz, wo sich die Leiter befand, die zu einer kleinen, viereckigen Luke in der Decke führte.
Als er die Leiter halb hinaufgestiegen war, wurde ihm ein Problem bewusst. Das Problem hatte vier Beine und einen wedelnden Schwanz und fing in diesem Moment an zu bellen.
»Pssst, Ibsen, leise!«, zischte Samuel.
Doch so leicht ließ sich Ibsen nicht zur Ruhe bringen. Laut kläffend verkündete er Tante Eda, dass Samuel gerade eine ihrer Regeln brach.
Dann hatte Samuel eine Idee. Der Käse! Er holte die fünf dünnen Scheiben Ziegenkäse aus seiner Hosentasche und ließ sie auf den Boden fallen.
Das genügte. Schon herrschte Stille. Er hatte sich Ibsens Schweigen mit fünf Scheiben Käse erkauft.
Samuel entriegelte die Luke und öffnete sie, bevor er einen Raum betrat, der voller Staub und Spinnweben war.
Die Truhe
A uf dem Dachboden war es dunkel, und Samuels Augen brauchten ein wenig Zeit, um sich darauf einzustellen. Es gab ein kleines Fenster, das jedoch so verstaubt und voller Spinnweben war, dass das schwache norwegische Sonnenlicht kaum hindurchdringen konnte.
Die Decke war so niedrig, dass jeder, der nur ein wenig größer war als Samuel, den Kopf einziehen musste, wenn er über die knarrenden Dielen ging. Da er aber bedeutend kleiner als seine Tante war, konnte er sich ziemlich mühelos bewegen. Dennoch gelang es ihm, mit dem Knie gegen eine Truhe zu stoßen, die im Halbdunkel verborgen gewesen war.
»Au!«, stieß er aus, bevor er sich rasch die Hand vor den Mund hielt.
Er tastete in der Truhe herum, rechnete mit interessanten Entdeckungen, fand aber nichts als alte Kleider. Die mussten einst Onkel Henrik gehört haben.
An der Wand hingen Bilder. Gerahmte Fotos. Samuel sah einen Mann in den schneebedeckten Bergen, der ein Paar Skier in der Hand hielt. Er lächelte und trug einen lilafarbenen Anzug, der seinen gesamten Körper hauteng umschloss. Wäre auch seine Haut lila
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