Im Schattenwald
Schwester wiederzufinden. Gewiss, eine kleine Chance, aber auch nicht kleiner als die, sich aus einer brennenden Grube zu befreien. Samuel begann, sich dem Haus zu nähern, während Ibsen vorsichtig neben ihm herlief und den Waldboden nach weiteren versteckten Löchern absuchte.
Das Dorf
A ls sie näher herankamen, begann Samuels Herz zu rasen.
Er stellte fest, dass das kleine Haus nicht allein stand. Ein Stück weiter hinten stand ein zweites. Dann sah er noch eines … und noch eines …
»Es ist ein Dorf«, teilte er Ibsen mit, obwohl nicht ganz klar war, was Ibsen mit dieser Information anfangen sollte.
Das Dorf bestand aus zwölf kleinen Häusern, die Steinwände, Holztüren und Holzdächer besaßen. Die Fenster aller Häuser waren ebenso rund wie die Anordnung des Dorfes selbst. Zusammen bildeten sie einen perfekten Kreis.
In der Mitte des Kreises befanden sich drei Baumstümpfe, auf deren offener Fläche jeweils ein Bild eingeritzt war. Es zeigte eine Sonne, deren Strahlen wie eine Mähne nach allen Richtungen abstanden. Genau dasselbe Bild war in jede einzelne Haustür geschnitzt.
Samuel ging zu einer der Türen und machte sich bemerkbar, indem er gegen die Mitte der hölzernen Sonne klopfte.
»Hallo, ist da jemand?«
Keine Antwort.
»Entschuldigung, ist jemand zu Hause?«
Er ging zu einem der glaslosen Fenster hinüber und wiederholte seine Frage. Als er schließlich seinen Kopf hineinsteckte, hatte er Gewissheit. Das Haus war leer.
Im Grunde sah es so aus, als wäre seit langer Zeit niemand
hier gewesen, weil alles von Staub und Spinnweben überzogen war.
Beim nächsten Haus war es nicht anders. Als Ibsen und er das vierte Haus des Kreises erreicht hatten, versuchte es Samuel an der Tür.
Sie öffnete sich knarrend und zerriss die Maschen der Spinnweben, die sich darauf befanden.
Ibsen begann vorsichtshalber zu knurren.
»Bleib hier, wenn du ein Angsthase bist«, sagte Samuel, »ich meine natürlich Angsthund.«
Dabei hatte Samuel viel größere Angst. Würde er nicht so verzweifelt nach Hinweisen suchen, wo seine Schwester geblieben war, hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongerannt.
Doch was hoffte er eigentlich zu finden?
Eine Karte des Waldes? Irgendein Geschöpf, das inmitten all der Spinnweben lebte und ihm helfen würde?
Er schaute zur Rechten und sah eine kleine Küche mit einem Holzfeuerofen. Darin lagen Holzscheite, die nur darauf warteten, angezündet zu werden.
Wie merkwürdig, dachte Samuel. Warum legt man Holzscheite in den Ofen, wenn sie nie gebraucht werden?
Auf dem Ofen stand ein Topf, der nach verschimmeltem Essen roch. Einer Mahlzeit, die nie jemand essen würde.
Samuel ging langsam ins Esszimmer, in dem sich ein runder Holztisch befand, in dessen Platte ebenfalls eine Sonne geschnitzt war. Um die Sonne herum standen vier hölzerne Schalen und vier hölzerne Löffel.
Doch es war nicht nur das vergammelte Essen, das im Haus einen üblen Geruch verbreitete. Da war noch ein anderer, weitaus ekelhafterer Gestank, den Samuel nicht identifizieren konnte.
»Au!«
Er war mit dem Zeh gegen etwas gestoßen.
Gegen etwas Hartes und doch Leichtes, das daraufhin über den Boden geschlittert war.
Er schaute nach unten, und was er sah, ließ ihm den Atem stocken.
Es war ein Schädel.
Ein Schädel, der sich durch die Berührung mit Samuels Fuß vom übrigen Skelett gelöst hatte.
Zum zweiten Mal am heutigen Tag bereute er, nicht auf Ibsen gehört zu haben.
Er war hin und her gerissen zwischen den beiden Samuels, die in seinem Kopf existierten. Es gab den einen Samuel, der am liebsten davongerannt wäre, und den anderen, der bleiben und sich umsehen wollte. Dieser zweite Samuel feierte einen kurzen Sieg, während er die Überreste des toten Körpers auf dem Boden anstarrte.
Es war kein menschlicher Schädel.
Die Augenhöhlen standen zu weit auseinander und hatten zur Seite des Kopfes ungefähr denselben Abstand wie zu dessen Mitte. Samuel erinnerte sich an die Kreaturen aus seinen Albträumen und an die Huldren, die er gemeinsam mit Tante Eda beobachtet hatte.
Nein , dachte er, es können keine Huldren sein. Die leben doch unter der Erde.
Samuel zwang sich, den Rest des Skeletts näher in Augenschein zu nehmen und mit den Bildern menschlicher Knochen zu vergleichen, die er in Biologiebüchern gesehen hatte. Die Unterschiede waren markant. Dieses Skelett hatte zu viele Rippen und zu lange Füße und Hände - sowie einen Schwanzknochen. Es musste von einem
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