Im Schattenwald
Er kann doch kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen.«
Oskar nickte. »Ich weiß, dass es unglaublich klingt, doch er schwört, dass es wahr ist.«
Tante Eda begriff nicht, was das mit ihrer Bitte zu tun haben sollte, also bat sie ihn erneut.
»Bitte, Oskar … ich bitte dich.«
Doch es gab kein Mittel, um Oskar zu überreden.
»Ich kann nicht mit dir in den Wald gehen«, sagte er. »Es tut mir leid, aber es geht nicht. Für solche Heldentaten bin ich zu alt.«
»Was soll ich denn machen?«
Er zuckte die Schultern. »Du könntest die anderen Männer im Dorf fragen. Vielleicht wollen sie dir helfen.«
»Da könnte ich genauso gut dein Rentier um Hilfe bitten. Du weißt doch, was sie von mir denken. Sie denken, dass es meine eigene Schuld ist, wenn ich die Kinder so nah an den Wald heranlasse.«
Dass Oskar die Brauen hob, vermittelte ihr das Gefühl, dass er womöglich derselben Meinung war. Sie dachte kurz daran, ihn ein weiteres Mal anzuflehen, aber dazu hatte sie keine Zeit. Sie verließ den Raum und lief aus dem Laden.
Außer Fredrick befanden sich nur ein paar alte Frauen im Geschäft, aber keine Männer.
Sie stürmte aus der Tür und rannte die Straße hinunter, klopfte an Türen und fragte jeden Mann, der ihr über den Weg lief. Doch alle hatten nur Ausreden parat.
Zuerst sprach sie mit Jonas, dem Buchhändler, der die norwegische Ausgabe von Die Geschöpfe des Schattenwalds zum meistverkauften Buch in Flåm gemacht hatte:
»Es tut mir leid, aber ich habe selbst Kinder. Außerdem braucht mich meine Frau.«
Als Nächstes war Thomas, der Polizist, an der Reihe. Er zeigte ihr eine Karte:
»Der Wald befindet sich auf der anderen Seite der Linie. Tut mir leid, aber der fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Und wie sollte man Trolle, Huldren und Pixies auch unter Kontrolle halten?«
Der Dritte war Kristoffer, der Friseur, der ihr erzählte, er sei allergisch gegen Kiefern.
Dann wandte sie sich an Ulf auf dem Postamt. Der legte entschuldigend sein Gipsbein auf den Tisch. »Ein Skiunfall«, erklärte er.
Andreas, der Besitzer des Geschenkladens, sagte, er habe zu viel zu tun.
»Aber du hast doch seit Jahren keinen Kunden mehr gehabt«, sagte Tante Eda.
Andreas schüttelte den Kopf. »Morgen geht’s richtig los. Dann gibt es 10% Rabatt für meine Käsehobel mit Rentiergeweihgriff. Und wer eine Figur kauft, bekommt eine zweite gratis dazu.« Eda betrachtete die Holzfiguren, die Pixies und Trolle darstellten. Einige hatten nur ein Auge, andere zwei Köpfe. Sie schauderte bei dem Gedanken, dass Samuel und Martha solchen Wesen in Wirklichkeit begegnet sein könnten.
Danach lief Eda zur Dorfkirche, um mit Martin, dem Pfarrer,
zu sprechen: »Gott wird den Kindern den Weg nach Hause weisen«, sagte Martin.
»Und du? Wirst du mir helfen?«
»Wer bin ich, dass ich das könnte? Und wer bist du - im Angesicht Gottes? Es tut mir leid, aber wir können nur beten.«
Blieb am Ende bloß noch der Alte Tor, der in seiner Kunsthandlung auf einem wackeligen Stuhl saß. Er malte gerade einen furchterregenden Huldren auf dem Rücken eines Pferdes, der im Mondschein dahinritt.
»Du musst mir helfen, Alter Tor. Die Kinder, auf die ich aufpasse, sind im Wald verschwunden.«
Die Augen des alten Mannes weiteten sich erschrocken, worauf er in eine Art Trance zu fallen schien.
»Alter Tor? Alter Tor? Kannst du mich hören?«
In diesem Moment kam seine Frau herein - die pummelige Frau mit den drei Strickjacken, die Eda an der Käsetheke so schlecht behandelt hatte.
»Lassen Sie uns in Ruhe«, sagte sie, »wir können Ihnen nicht helfen!«
»Aber meine Kinder sind im Wald verschwunden. Ich kann sie allein nicht finden und Ihr Mann hat die Kreaturen schon früher gesehen …«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen«, sagte die alte Frau mit Blick auf die Leinwand. »Er hat seitdem nichts anderes mehr im Kopf. Die Leute wollen doch Bilder von Bergen und Fjorden. Sie wollen sich keine Monster an die Wand hängen. Wir haben seit Tagen nichts mehr verkauft.«
Die Strickjackenfrau machte Tante Eda sichtlich wütend.
»Sie scheinen mich nicht richtig verstanden zu haben. Die Kinder sind im Wald verschwunden.«
»Nun, das ist Ihre Sache, wenn Sie so leichtsinnig sind, so nah an diesem gefährlichen Ort zu leben.«
Tante Eda entschied sich, diesen letzten Kommentar zu ignorieren, und wandte sich wieder an den Alten Tor.
»Ich weiß, dass du mich nicht in den Wald begleiten kannst, aber ich werde gehen. Mir
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