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Im Schattenwald

Im Schattenwald

Titel: Im Schattenwald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Haig
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bleibt keine andere Wahl. Und ich habe nichts mehr zu verlieren. Wenn du mir irgendwas über die Kreaturen sagen kannst, die du gesehen hast, dann tu es bitte.«
    Der Alte Tor wandte seinen Blick zum ersten Mal von der Leinwand ab und schaute Eda an. Eines seiner Augen hatte eine milchige weiße Oberfläche, und Tante Eda erinnerte sich daran, was Oskar gesagt hatte. Sein eines Auge ist vollkommen erblindet . Sie fragte sich, wie alt er sein mochte. Achtzig? Neunzig? Wie konnte ein so alter Mann nur vor einem galoppierenden Pferd davonlaufen, fragte sie sich, als sie die faltige Hand betrachtete, die den Pinsel hielt.
    Hand und Pinsel verharrten für einen Moment regungslos in der Luft, als würde der Alte Tor gerade eine wichtige Entscheidung treffen. Dann stand er auf und entfernte sich mit schleppenden Schritten.
    »Na, großartig«, murmelte Tante Eda. »Ein weiterer hilfsbereiter Dorfbewohner.«
    Doch er ging nicht fort. Er schlurfte nur zu seiner Jacke, die in einer Ecke des Raumes an einem Haken hing. Er griff in die Innentasche und zog etwas heraus. Einen weißen Gegenstand, der aussah wie ein Armband oder das Halsband einer Katze.
    Er trottete zurück, kümmerte sich nicht um das Meckern seiner Ehefrau und reichte es Tante Eda.
    »Nimm das mit«, sagte er.
    Was sollte das sein? Eine Art Talisman?
    Seine Frau machte ein grummelndes Geräusch, als ginge in ihrem Kopf gerade eine kleine Explosion vor sich, und stapfte wütend aus dem Zimmer.

    »Was ist das?«, fragte Tante Eda.
    »Das habe ich letzte Nacht bei einem Felsen nahe am Wasser gefunden, als ich den Fjord malen wollte. Siehst du die kleine Scheibe aus Zinn, die daran befestigt ist? Schau dir die Inschrift an.«
    Tante Eda betrachtete das weiße Stoffarmband und die silberne Scheibe, die daran befestigt war. Drei Großbuchstaben waren in die Scheibe eingraviert:

HEK
    »Hek«, flüsterte Tante Eda. Hexe .
    Der Alte Tor nickte. »Das hatte ich in meiner Tasche, als die Huldren mich verfolgt haben.«
    »Entschuldige«, sagte sie, »aber ich verstehe nicht …«
    Der Alte Tor zeigte auf sein blindes Auge. »Ich konnte mit einem Mal wieder sehen. Nur für die paar Sekunden, die ich brauchte, um vor ihnen davonzulaufen. Ich sah besser als je zuvor, obwohl es dunkel war. Es war einfach unglaublich! Und meine Beine … als wären ihnen Flügel gewachsen, als wäre ich wieder ein Junge, allerdings der schnellste Junge, den es je gegeben hat.«
    Tante Eda umklammerte das Halsband. »Vielleicht lag das an deiner Angst. Angst hat schon manches bewirkt.«
    Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Angst lässt dich nicht die leuchtendsten Farben in der Dunkelheit sehen. Sie kann nicht bewirken, dass ein alter Mann vor einem Pferd davonläuft.«
    Tante Eda betrachtete das halb fertige Bild. Die furchterregende Gestalt mit den weit auseinanderstehenden Augen, den spitzen Ohren und dem Kuhschwanz, die auf einem weißen Pferd galoppierte. »Und jetzt? Kannst du immer noch so schnell laufen?«

    Er lächelte. »Nein, du hast mich doch gesehen. Ich brauche eine Minute, um den Raum zu durchqueren. Das Armband hat mir besondere … Fähigkeiten verliehen, aber nur als ich in Gefahr war. Nimm es, bitte. Falls sich noch mehr solcher Kreaturen im Wald befinden, wirst du es brauchen.«
    Tante Eda streifte das weiße Band über ihr Handgelenk. »Danke, Alter Tor«, sagte sie. »Doch was ist mit den Kindern? Sie haben kein Armband, das sie beschützt.«
    »Nein, aber sie haben dich«, entgegnete er. »Geh jetzt. Und möge Gott dich beschützen.«

    Eine Viertelstunde später war Tante Eda auf ihrem Dachboden und suchte nach Die Geschöpfe des Schattenwalds .
    »Wo kann es denn nur geblieben sein?«, murmelte sie, während sie die Truhe durchsuchte. »Oh, nein, irgendjemand muss es genommen haben.«
    Aber wer?
    Es kamen nur Martha oder Samuel infrage. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, auf der Suche nach etwas, das ihr helfen konnte.
    Alte Kleider. Nein.
    Fotos von Henrik. Nein.
    Dann erblickte sie ihn. Er lehnte an der Wand. Der Speer. Sie hatte ihn seit Jahren nicht benutzt, denn ihre Arme waren auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Es war ein merkwürdiger Anblick, als sehe sie sich selbst als junge Frau.
    »Du kommst mit«, sagte sie, während sie ihn ergriff.
    Sie ging nach unten, verließ das Haus und erklomm den Hügel so schnell, wie es ihr möglich war.
    Als sie die Kiefern erreichte, hielt sie inne und rief ein weiteres Mal in den Wald

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