Im Schattenwald
es nicht ihre Schuld …«
Der linke Troll runzelte die Stirn. »Sie hat deine Zauberkraft gestohlen und trotzdem ist es nicht ihre Schuld? Das verstehe ich nicht.«
»Über Zauberkraft zu verfügen, ist eine enorme Verantwortung«, erklärte die Schneehexe. »Es muss bestimmte Regeln geben … einen Verhaltenskodex … sonst können furchtbare Dinge geschehen. Aus diesem Grund befolgen wir seit den Tagen der ersten Waldhexen den Hek-Kodex. Der eine Teil des Hek-Kodex’ besagt, dass derjenige, der einer Hexe das Leben rettet, sich ihrer Zauberkraft bemächtigen darf … und zwar in jeder Form und beliebig oft.«
»Ich verstehe immer noch nicht«, sagte der linke Troll.
Dann klärte die Schneehexe Martha und all die anderen über die wahren Gründe auf, warum sie im Gefängnis saßen.
»Dafür ist der Mann verantwortlich, den alle im Wald den ›Veränderer‹ nennen«, sagte sie. »In Wahrheit ist er ein Mensch und heißt Professor Horatio Tanglewood. Er hat meiner Schwester das Leben gerettet. Und sie ist ihm seither zu Diensten und stellt niemals den Hek-Kodex infrage, der alles so … Jeder Wunsch wird ihm sofort gewährt und wir müssen den Preis dafür bezahlen. Jeder von uns. Jeder, der hier eingesperrt ist, muss dafür büßen. Wisst ihr, warum niemand den Wald betreten oder verlassen darf? Wisst ihr, warum die Huldren jeden aufhalten, der hinein- oder herauskommen will?«
Da niemand die Antwort wusste, erklärte es die Schneehexe. Sie erklärte, dass sie alle im Gefängnis säßen, weil sie eine Gefahr für Professor Tanglewood darstellten. Und sie seien eine Gefahr, weil er verhindern wolle, dass jemals ein Mensch - außer ihm selbst - etwas über den Wald erführe.
Die Schneehexe sah Martha in die Augen und begriff, dass sie ihr eine Erklärung schuldig war.
»Der Wald ist heute ein sehr gefährlicher Ort, Menschenkind. Aber das war er nicht immer. Es gab eine Zeit - eine Zeit, an die ich mich erinnere, als sei es gestern gewesen -, als alle Geschöpfe noch glücklich waren und in Frieden zusammenlebten. Damals bestand nicht die geringste Gefahr für die Menschen. Es gab nur friedliche Wesen - wie die Huldren.«
Martha sah verwirrt aus.
»Oh, ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte die Schneehexe. »Du fragst dich, was an deinen Peinigern, die dich eingesperrt haben, so friedlich sein soll. Und du hast Recht. An ihnen ist nichts Friedliches. Doch was du jetzt erlebst, ist eine Korruption
der Natur und ein Missbrauch der Zauberkraft meiner Schwester.«
Die Schneehexe hielt inne, als sei sie in ihrer Erinnerung befangen. Für einen Moment starrte sie nur in die dunkle Leere des Gefängnisgangs.
»Damals lebten sie über der Erde«, sagte sie schließlich. »Die Huldren wohnten in einem Dorf und verehrten die Sonne. Aber das war vor dem großen Plan des Professors, den Wald vor allen Menschen zu schützen. Oh, das war der schlimmste Tag aller Zeiten. Der Tag, an dem er meine Schwester dazu brachte, die Schatten zu stehlen. Der Tag, an dem er die grausame Fantasie seines Buches Wirklichkeit werden ließ.
Der Professor ist ein böser Mann, Menschenkind. Er sorgte dafür, dass die Huldren die Sonne fürchten lernten, die sie bis dahin verehrt hatten. Er zwang sie, unter der Erde zu leben, und verwandelte friedliebende, pflanzenfressende Kreaturen in brutale Fleischfresser. Nur wenige Geschöpfe - wie die Trolle und Tomtegubbs - blieben so harmlos wie eh und je, weil ihre Schatten niemals gestohlen wurden. Der Professor schrieb, dass Trolle gefährliche Wesen seien, aber das sind sie niemals gewesen. Es sind die friedlichsten Wesen, die man sich nur vorstellen kann. Deshalb gibt es strenge Regeln, wo sie sich aufhalten dürfen.«
Martha ließ ihren Blick vom Tomtegubb zum zweiköpfigen Troll wandern und sah ein, dass ihr Leben nicht in Gefahr schwebte.
Die Schneehexe seufzte.
»Selbst die aufrichtigsten und unschuldigsten aller Geschöpfe - die sanftmütigen Pixies - wurden zu gefährlichen Kreaturen. Extrem gefährlichen Kreaturen. Oh, mir stockt das Herz, wenn ich nur daran denke - an diesen verhängnisvollen Tag.«
Alle schwiegen bedrückt. Sogar der Tomtegubb hörte für einen Moment auf zu summen und dachte an all die anderen Tomtegubbs, die vom Veränderer getötet worden waren. Nur Martha waren die Worte der Schneehexe nicht nahegegangen.
Sie wusste, wie unbarmherzig das Leben sein konnte, und erwartete sich nichts anderes.
Sie schloss die Augen und stellte sich das Leben als eine
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