Im Schattenwald
Person vor. Nein, nicht als eine Person, sondern als grausamen Huldren, der durch die Gitterstäbe hindurch nach ihr spuckte.
Doch Grausamkeit wird von Angst und vielen anderen Gefühlen genährt. Wenn sie also gar nichts fühlte, konnte sie auch die Grausamkeit auf Distanz halten.
Ich verzichte genauso auf meine Gefühle wie auf meine Sprache , dachte sie. Doch seine Gefühle aufzugeben, ist kein leichtes Unterfangen. Und das Gefühl, das sich absolut nicht abschütteln ließ, war die Schuld. Die Schuld, die sie gegenüber ihrem Bruder empfand, weil sie ihn verleitet hatte, in den Wald zu gehen. Sie dachte an gefährliche Kreaturen wie die Wahrheits-Pixies. Sie waren im Wald unterwegs und hatten es auf jeden Menschen abgesehen, der ihnen über den Weg lief. Sie schloss die Augen und betete im Stillen für ihren Bruder.
Samuel.
Es tut mir leid.
Es tut mir so schrecklich, schrecklich leid.
In diesem Moment begann sie zu weinen.
Seit dem Tag des herabstürzenden Baumstamms hatte sie keine Träne mehr vergossen. Die Tränen waren in ihr gefangen, so wie sie selbst eine Gefangene war, doch als sie an ihren Bruder dachte, der durch diesen schrecklichen Wald irrte, brachen all die gefangenen Tränen aus ihr heraus.
Und doch war es kein normales Weinen.
Es war nicht dasselbe Weinen, das sie stets weinte, wenn
Samuel all ihre Haarbänder versteckt hatte. Oder wenn ihre Mutter sie zu spät vom Reiten abgeholt hatte. Oder wenn ihre Eltern nicht aufhören wollten, sich zu streiten.
Mit diesen Tränen wollte sie stets etwas erreichen. Sie wollte ihre Haarbänder zurückhaben, pünktlich abgeholt werden oder friedliche Eltern.
Die Tränen, die sie jetzt weinte, waren allenfalls stiller, in sich gekehrter. Wozu sollten sie auch gut sein? Sie waren wie die falsche Währung in einem fremden Land, die zu nichts nutze war.
»Weine nicht, Menschenkind«, sagte die Schneehexe.
Doch die stillen Tränen quollen immer weiter hervor und hätten schon ein Wasserglas füllen können.
Die Schneehexe begann, etwas vor sich hin zu murmeln, und schien ernstlich bedrückt zu sein.
»Was ist mit dir, Schneehexe?«, fragte der linke Troll.
»Du fragst zu viel«, sagte der rechte Troll.
»Du hast nur Angst vor den Antworten«, entgegnete der linke Troll.
»Eine Welt ohne Fragen ist die sicherste Welt«, erwiderte der rechte Troll.
»Du meinst, die langweiligste Welt«, sagte der linke Troll.
»Nein, die sicherste.«
»Sag ich doch!«
Martha spürte eine Kälte in ihren Augen und auf ihren Wangen. Sie betrachtete die Schneehexe, die immer noch unter einem großen Schmerz zu leiden schien.
Dann bemerkte Martha etwas.
Sie weinte nicht mehr.
Sie fasste sich an die Wange und tastete nach ihren Tränen. Sie waren hart. Gefroren. Auf der anderen Wange dasselbe. Ein dünner Eiszapfen.
Die Tränen brachen in ihrer Hand und hinterließen auf dem Boden kleine Pfützen.
»Deine Tränen tun mir unendlich leid, Menschenkind«, sagte die Schneehexe. »Doch meine Zauberkraft ist zu schwach, um deine Trauer zu vertreiben.«
Oder Marthas Trauer war zu stark.
»Komm schon«, sagte der Tomtegubb in einer Art Singsang, den auch Martha früher benutzt hatte. »Kopf hoch! Es ist noch nicht alles verloren.«
Doch Martha wusste, dass der Tomtegubb Unrecht hatte.
Es war alles verloren.
Und damit nicht genug: Es würde alles nur noch schlimmer werden.
Der magische Geruch
S amuel und Ibsen waren seit Stunden unterwegs und hatten keine Ahnung, wo sie sich befanden. Sie waren so schnell aus dem verlassenen Dorf mit dem Huldrenskelett geflüchtet, dass sie nicht auf den Weg geachtet hatten.
»Meine Füße tun schrecklich weh«, sagte der Junge zu seinem vierbeinigen Begleiter. »Für dich ist das kein Problem, du hast ja Pfoten.« Samuel versuchte, mit seinen Füßen auf dem Gras am Rande des Weges zu bleiben, um nicht ohne Schuhe auf der harten Erde gehen zu müssen.
Ibsen schaute ihn amüsiert an.
»Martha!«
Samuels Rufe wurden seltener und zunehmend hoffnungsloser. Der Name seiner Schwester prallte an den Bäumen ab wie ein Ball, den keiner fangen wollte.
»Martha!«
Ihm war ganz flau im Magen. Seine Füße hatten Risse und Blasen. Der kalte Wind drang durch seine Kleider. Er fragte sich, ob er versuchen sollte, zu Tante Eda zurückzukehren, entschied sich jedoch dagegen. Martha war alles, was zählte, und er würde den Wald nicht ohne seine Schwester verlassen.
Er stapfte immer weiter, während Ibsen lustlos neben ihm hertrottete,
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