Im Schutz der Nacht
ausmachen wird, wüsstest du hinterher, dass ich dich angelogen habe, und dann würdest du mir nie wieder glauben. Natürlich«, fügte Sheila nachdenklich hinzu, »habe ich gar nicht geweint, als Patrick in die Schule kam. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich auf dem Rasen Purzelbäume geschlagen.«
Sheila begann von Patrick zu erzählen und brachte Cate zum Lächeln, bis sie beide zu Bett gingen. Doch sobald Cate ihrer Mutter gute Nacht gewünscht und ihre Zimmertür geschlossen hatte, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und ihr Kinn begann zu beben. Die Jungs waren noch nie über Nacht von ihr getrennt gewesen. Die Aussicht war vernichtend. Sie wären so weit von ihr weg; falls ihnen etwas zustoßen sollte, würde sie viele, viele Stunden brauchen, um zu ihnen zu gelangen. Tagsüber könnte sie nicht mehr hören, wie sie spielten, wie sie schrien, kreischten, lachten und mit ihren kleinen Füßen donnernd über den Flur rannten. Sie könnte sie nicht mehr umarmen und ihre kleinen Körper an ihrem spüren, um sich zu überzeugen, dass es ihnen gut ging.
Sie wünschte sich bitterlich, sie hätte ihrer Mutter nicht gesagt, dass sie die Zwillinge mitnehmen konnte, doch in diesem Moment hatte die Panik sie im Griff gehabt - eine ganz normale Reaktion, nachdem man mit einer Waffe auf sie gezielt hatte. Ihr einziger Gedanke war gewesen, ihre Kinder so weit wie möglich aus der Schusslinie zu schaffen.
Sie hatte nicht geahnt, dass es so schwer würde, die beiden von ihrem Rockzipfel zu reißen. Außerdem hatte sie nicht vorgehabt, das schon so bald zu tun. Mit fünf Jahren wäre das viel einfacher gewesen. Oder mit sechs. Oder sieben.
Sie musste über sich lachen, ein wässriges Gurgeln, das in einem Schluckauf endete. Halb wünschte sie sich, dass die beiden unabhängiger wurden, weil es kein leichtes Stück war, als allein erziehende Mutter über zwei umtriebige kleine Jungen zu wachen. Sie hatte das Gefühl, nie eine freie Sekunde zu haben, jede Minute jedes Tages hellwach sein zu müssen, weil ihre Kinder jede Sekunde in Schwierigkeiten geraten konnten. Wenn sie erst älter und verantwortungsbewusster waren, könnte sie sich entspannen. Nur jetzt sollten sie noch nicht älter und verantwortungsbewusster werden.
Ihre Selbstbeschwörungsversuche halfen nichts; genauso wenig, wie sich Vernunft einreden zu wollen. Sie weinte sich in den Schlaf, weil sie die Jungs schon jetzt so vermisste, dass es fast ihr Herz zerriss.
Am nächsten Morgen stand Cate noch früher auf als sonst, damit sie ihrer Mutter helfen konnte, die Jungs und das Gepäck in den SUV zu laden, bevor sie in die Küche musste. Den Jungs machte sie heißen Haferflockenbrei, weil die Luft so kurz vor der Dämmerung schon richtig kalt war, aber beide waren zu verschlafen, als dass sie mehr als ein paar Bissen hinunterbekommen hätten. Weil Cate genau wusste, dass sie es nie bis Boise schaffen würden, ohne hungrig zu werden, hatte sie beiden eine kleine Plastiktüte mit süßen Cornflakes vorbereitet und für alle Fälle noch je einen Apfel mitgegeben.
Es war noch nicht hell, als sie die Jungs nach draußen scheuchten. Nicht einmal die eisige Luft konnte ihre Müdigkeit vertreiben. Sie sahen so süß aus in ihren Jeans und Turnschuhen und mit den kleinen Flanellhemden, die sie offen über ihrem T-Shirt trugen. Weil sie sich geweigert hatten, Jacken anzuziehen, war Cate kurz nach draußen gelaufen, um den Wagen anzulassen und die Heizung aufzudrehen, sodass es im Wageninneren schon angenehm warm war. Sie kuschelten sich in ihre Sitze, jeweils mit einem Spielzeug in der Hand. Cate küsste jeden ein letztes Mal, wünschte ihnen viel Spaß und ermahnte sie, Mimi zu folgen. Dann umarmte sie ihre Mutter. »Gute Fahrt«, wünschte sie ihnen, ohne dass ihre Stimme allzu sehr zitterte.
Sheila erwiderte ihre Umarmung und tätschelte ihren Rücken, genau wie früher, als Cate ein kleines Mädchen gewesen war. »Mach dir keine Gedanken«, sprach sie ihr zu. »Wir telefonieren, sobald wir angekommen sind, und ich werde jeden Tag anrufen oder eine E-Mail schreiben.«
Cate wollte das Wort Heimweh nicht in den Mund nehmen, solange die Jungs sie hören konnten, sie wollte die beiden nicht auf dumme Gedanken bringen, falls sie wussten, was der Begriff bedeutete, und sagte darum: »Falls es ihnen nicht mehr gefällt ...«
»Dann werde ich damit fertig«, fiel ihr Sheila ins Wort. »Ich weiß, du hast nur zugestimmt, weil du Angst hattest; jetzt ist nichts weiter
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