Im Schutz der Nacht
Mit Sicherheit war ihm eiskalt, doch irgendwie schaffte er es, nicht zu zittern.
»Er braucht etwas zum Anziehen«, flüsterte sie Sherry zu.
»Es geht schon«, antwortete er, ohne den Kopf zu drehen.
Cate spürte, wie etwas in ihr kochte. »Nein, Calvin Harris, das geht gar nicht!«, widersprach sie wütend. »Es kommt gar nicht in Frage, dass du halb nackt und verwundet durch die kalte Nacht läufst. Wir suchen dir was zum Anziehen, und damit basta.« In dieser Nacht waren viele weitaus schlimmere Dinge geschehen, doch an denen konnte sie nichts ändern. Trotzdem würde Cal nur über ihre Leiche noch einen Schritt tun, ohne dass er einen Mantel oder zumindest ein Hemd anhatte.
Er verstummte wieder, und sie fragte sich, ob sie den Verstand verloren hatte. Die Ereignisse begannen wieder zu verschwimmen, sodass ihr Kleinigkeiten plötzlich lebenswichtig erschienen, während sich die großen Probleme im Hintergrund verloren. Sie betrachtete seinen langen, kräftigen Rücken, die tiefe Furche über seinem Rückgrat und die hervortretenden Muskeln und hätte am liebsten losgeheult. Stattdessen atmete sie tief durch und konzentrierte sich darauf, die beiden tieferen Schnitte zu säubern. Aus beiden sickerte immer noch wässriges Blut, aber der Blutverlust hielt sich in Grenzen. Sie strich desinfizierende Salbe darauf und drückte dann die Öffnung zusammen, während sie mühselig eine Serie von Schmetterlingspflastern auf jeden Schnitt setzte. Als sie damit fertig war, klafften die Wunden nicht mehr auf. Vielleicht brauchten sie nicht zu nähen.
»Besser geht es nicht«, sagte sie schließlich, räumte alles wieder so in die Erste-Hilfe-Box, wie es darin gelegen hatte, und sammelte die verschmutzten Desinfektionstücher und Papiertücher ein, die sie zu Boden fallen lassen hatte. Sie zögerte, weil sie nicht wusste, was sie mit dem eingesammelten Müll anfangen sollte, und ließ ihn zuletzt wieder fallen. Sauber machen konnte sie später.
Cal wollte aufstehen, doch sie legte die Hand auf seine unverletzte rechte Schulter, um ihn aufzuhalten. »Cal braucht etwas zum Anziehen!«, rief sie den Menschen zu, die sich auf ihrem Rasen versammelt hatten. »Ein Hemd, eine Jacke, egal was. Hat jemand irgendwas, das er abtreten kann?« Dann ergänzte sie: »Ich werde Decken aus dem Haus holen, damit wir nicht so frieren.«
»Warum gehen wir nicht ins Haus?« Millys Stimme bebte, weil ihr so kalt war.
»Cates Haus liegt in der Reichweite der Gewehre«, antwortete Cal. »Es gibt ein paar Häuser, die noch weiter weg sind und außerhalb des Feuerbereichs liegen. Ich glaube, dass wir hier halbwegs geschützt sind, aber sicher bin ich mir nicht. Eine Hochkaliberkugel kann durch mehrere Häuserwände schlagen, wenn sie nicht auf etwas wie einen Kühlschrank trifft, das sie abbremst. Sobald es hell wird, überprüfe ich die Entfernungen. Bis dahin müssen wir möglichst viele Hindernisse zwischen uns und die Schützen bringen. Danke«, setzte er hinzu, als ihm ein Flanellhemd gereicht wurde. Cate hatte nicht gesehen, wer es gestiftet hatte. Cal zog das Hemd über und knöpfte es hastig zu; inzwischen bibberte er ebenfalls.
»Der Garderobeschrank ist gleich rechts hinter der Haustür«, sagte sie zu ihm. »Darin hängen mehrere Mäntel, und der Wäscheschrank mit den zusätzlichen Decken steht direkt vor der Waschküche. Ich laufe schnell ins Haus, hole alles raus und bin in einer Minute wieder zurück.«
»Ich mache das«, sagte er und drehte sich schon zur Veranda um.
Cate hielt ihn mit der Hand auf dem Arm zurück. »Du kannst nicht alles allein machen. Du must Creed und Neenah und die anderen suchen gehen. Ich hole die Decken und Mäntel. Wohin sollen wir uns zurückziehen, damit du genau weißt, wo wir sind?«
Einen Moment fürchtete sie, er würde ihr widersprechen, doch dann sagte er: »Seht zu, dass ihr es bis zu den Richardsons schafft«, dem Haus, das am weitesten von der Brücke entfernt lag. »Die Schüsse kamen aus mindestens drei verschiedenen Richtungen, sie nehmen uns also aus mehreren Winkeln unter Feuer. Bleibt in Deckung, achtet darauf, dass möglichst immer etwas zwischen euch und dem Berghang ist, und zwar von der Brücke aus bis zum Notch. Kapiert?« Er hatte die Stimme erhoben, damit alle ihn hörten, nicht nur Cate.
»Ja.« Ihr frostiger Atem hing zwischen ihnen in der Luft.
»Wenn ihr freies Gelände durchqueren müsst, macht das so schnell ihr könnt. Bleibt nicht hintereinander, sonst betteln die
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