Im Schutz der Nacht
»Ich zähle kurz durch, dann wissen wir, woran wir sind.« Er leuchtete mit der Taschenlampe über den Rasen, ließ dabei den Strahl kurz auf jedem Gesicht liegen, und in jedem davon erkannte Cate die gleiche wilde Mischung aus Entsetzen, Fassungslosigkeit und Zorn, die auch auf ihrem stehen musste. Sie sah Menschen, die sich umklammerten und Trost und Wärme suchend aneinanderkuschelten, und begann langsam ganz praktisch zu denken: Was sie an Decken, Mänteln und anderen Dingen aus dem Haus holen konnte. Kaffee wäre gut, aber der Strom war ausgefallen. Andererseits hatte sie einen Gasherd ... Das Denken fiel ihr schwer, die Gedanken wollten nur widerwillig aus ihrem Hirn, aber zumindest begann sich die Benommenheit zu legen.
»Ist jemand verletzt?«, fragte Cal erneut, nachdem er abgezählt hatte, wie viele Menschen sich hinter Cates Haus versammelt hatten. »Und damit meine ich keine verknacksten Knöchel oder aufgeschürften Knie. Wurde jemand getroffen? Ist jemand verwundet?«
»Du«, bemerkte Sherry Bishop fast bissig.
Cates Kopf schoss herum. Cal war verwundet? Entsetzt starrte sie ihn an, während er die Arme ausbreitete und an sich herabsah, um sich zu untersuchen, als wüsste er nicht, wovon Sherry redete. »Wo denn?«, fragte er.
Cate entdeckte die rotschwarzen Streifen auf seinen Armen. »An den Armen«, sagte sie und wollte aufstehen.
Sofort war er bei ihr, drückte die Hand auf ihre Schulter und hielt sie auf dem Boden nieder. »Bleib unten«, sagte er so leise, dass nur sie es hören konnte. »Mir geht es gut, das sind nur ein paar Glasschnitte.«
So wie sie es sah, gehörten Schnitte verarztet, ganz gleich, wodurch sie verursacht worden waren. Und wenn es sicherer war, auf dem Boden zu sitzen, warum saß er dann nicht auf dem Boden? »Wenn du dich nicht hinsetzt«, sagte sie im gleichen Tonfall, mit dem sie auch zu ihren Jungs sprach, »dann stehe ich auf. Du hast die Wahl, Cal.« Bis vor einigen Tagen hätte sie es für ausgeschlossen gehalten, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen, aber seit einigen Tagen war nichts mehr wie zuvor.
»Ich kann mich nicht hinsetzen, ich muss noch ein paar Sachen erledigen ...«
»Setz dich hin.«
Er setzte sich.
Cate ging auf die Knie und krabbelte hinter ihn. »Sherry, kannst du mir kurz helfen? Halte die Taschenlampe, damit wir nachsehen können, wie schlimm die Schnitte sind. Außerdem brauche ich Verbandszeug aus ...«
»Mein Erster-Hilfe-Kasten liegt auf der Veranda«, sagte er. »Da habe ich ihn fallen lassen.«
»Dann soll ihn bitte jemand holen.« Cate erhob die Stimme, und Walter machte sich prompt auf den Weg.
»Bleib unten«, rief Cal ihm leise zu. Walter lief gehorsam mit abgeknicktem Oberkörper los.
Am Rücken war Cals T-Shirt feucht und klebrig. Sherry nahm Cals Taschenlampe in die Hand und richtete den Strahl auf ihn, während Cate das T-Shirt nach oben rollte. Das Blut sickerte aus mehreren kleinen nadelstichartigen Einschnitten, doch es gab auch zwei tiefere Schnittwunden auf seinem rechten Trizeps beziehungsweise oben auf seiner linken Schulter. Sie zog ihm das T-Shirt über den Kopf, bis es nur noch an seinen Armen hing und sein ganzer Rücken entblößt war.
Walter kehrte mit einer Köderbox zurück, klappte sie auf und gab den Blick auf mehrere Fächer voller Verbandsmaterial frei. Sherry leuchtete in die Box hinein, bis Cate die einzeln verpackten Desinfektionstücher gefunden hatte. Sie riss einen Umschlag auf, faltete das handflächengroße Tuch auf und begann die Wunde zu reinigen. »Ich weiß nicht, was wir machen, wenn sich herausstellt, dass die beiden größeren Wunden genäht werden müssen«, murmelte sie Sherry leise zu.
»Ich habe auch Nadel und Faden in der Box.« Cal versuchte den Kopf zu drehen, um den Schaden mit eigenen Augen zu begutachten.
» Ahhh!« Sie gab einen dieser wortlosen Warntöne von sich, die eine Spezialität ihrer Mutter waren, er hielt inne und drehte belämmert den Kopf wieder nach vorn.
Schweigend reinigte sie die Wunden und drückte danach Mullbinden auf die tieferen Schnitte. Das austretende Blut hielt die Binden an Ort und Stelle, so dass sie die kleineren
Wunden mit antiseptischer Salbe bestreichen und mit Pflastern abdecken konnte. Seine Haut fühlte sich kalt und klamm an, was ihr ins Gedächtnis rief, dass er mit nichts als einem T-Shirt und Kampfhose durch die kalte Nacht gelaufen war und gleichzeitig geschwitzt hatte; jetzt reinigte sie seinen Rücken obendrein mit feuchten Tüchern.
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