Im Sog der Angst
aufgebrochen waren, hatte er mir Verbrecherfotos von Degussa und eine Aufnahme Bennett Hackers von der Zulassungsstelle gezeigt. Degussa war eins dreiundachtzig groß, wog neunzig Kilo und hatte zahlreiche Tattoos. Langes, von Falten durchzogenes Gesicht, dicker Hals, ausgeprägte Gesichtszüge, schwarze Haare, die gegelt und glatt zurückgebürstet waren. Auf einem der Fotos trug Degussa einen dicken, nach unten hängenden Schnurrbart. Auf den anderen war er glatt rasiert. Kleine schmale Augen gaben äußerste Langeweile zu erkennen.
Hacker war eins achtundachtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer, hatte sich lichtendes, schmutzig graues Haar und ein Kinn, das alles andere als kräftig war. Er trug ein weißes Hemd mit Krawatte und lächelte schwach in die Kamera der Zulassungsstelle.
Dwight Zevonsky, dem Ermittler von Medi-Cal, zufolge war der Bewährungshelfer ein reicher Mann. Reich waren beide.
Franco Gull hatte auf meine Begrüßung nicht reagiert, also wiederholte ich sie.
Er sagte: »Morgen.«
Ich hatte mein Jackett nicht aufgeknöpft, meine Haltung blieb bestimmt. »Es ist schön draußen«, sagte ich. »Aber das spielt für Sie keine Rolle.«
Keine Antwort.
»Diese ganze Disharmonie muss schwer zu ertragen sein, Franco.«
»Wie bitte?«, sagte Myrna Wimmer. »Disharmonie. Wenn das Selbstbild mit der harten Wirklichkeit kollidiert.« Ich schob mich näher an Gull heran. Er drückte sich in dem Armsessel zurück. Der Sessel rollte fünf Zentimeter nach hinten.
»Was soll das?«, fragte Wimmer. »Habe ich einen Termin abgesagt, um mir Psychogebrabbel anzuhören?«
Ich wandte mich an Gull. »Zunächst einmal sollten Sie wissen, dass ich kein Polizeibeamter bin, sondern ein Kollege von Ihnen.«
Franco Gulls linkes Auge zuckte, und er warf Wimmer einen Blick zu. Sie fragte: »Was ist hier los?«
»Dr. Delaware ist klinischer Psychologe«, sagte Milo. »Er fungiert als Berater des Departments.«
Gull funkelte mich an. »Sie haben nie daran gedacht, das zu erwähnen.«
»Dazu bestand bislang kein Grund«, erwiderte ich. »Jetzt allerdings schon.«
Wimmer verschränkte die Arme vor der Brust. »Das ändert die Lage völlig.«
»Stellt das ein Problem für Sie dar?«, fragte Milo.
Sie hielt einen Finger hoch. »Niemand redet, ich denke nach.«
»Vielleicht ist es für Ihren Mandanten so angenehmer«, sagte Milo. »Ein wenig Kollegialität.«
»Das bleibt abzuwarten.« An mich gewandt: »Was ist eigentlich Ihr Anliegen - zuallererst, wie war noch mal Ihr Name?«
Ich sagte es ihr, und sie gab sich den Anschein, ihn aufzuschreiben. »Okay, was ist also Ihr Anliegen?«
»Klinische Psychologie.« Ich drehte mich zu Gull um. »Ich habe nachzuvollziehen versucht, wie Sie in diese trostlose Lage geraten sind.«
Gull blickte zur Seite, und ich fuhr fort: »Ich habe ein wenig in Ihrer Vergangenheit recherchiert, aber das hat nur noch mehr Stücke zu dem Puzzle hinzugefügt.« Ich rückte ihm noch näher. Gull versuchte, den Sessel nach hinten zu schieben, aber die Rollen verfingen sich im Teppich.
»Franco - ich darf Sie doch Franco nennen? Franco, die Lücke zwischen der Person, über die ich so viel erfahren habe, und dem, was jetzt mit Ihnen geschieht, ist ziemlich groß.«
Gull fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
Myrna Wimmer lachte. »Junge, Junge, Grundkurs Psychologie.«
Ich drehte mich zu ihr. »Sind Sie damit einverstanden?«
Die Frage überraschte sie. »Sie wollen meine Meinung hören?«
»Ich will damit sagen«, erwiderte ich, »falls ich die Sache falsch angehe - falls Sie eine bessere Methode haben, mit Dr. Gull zu kommunizieren -, informieren Sie mich bitte.« Ich sprach leise, so dass sie sich herunterbeugen musste, um mich zu verstehen.
Sie sagte: »Ich - machen Sie einfach weiter. Ich habe in fünfundvierzig Minuten den nächsten Termin.«
Ich wandte mich wieder Gull zu. »Sie haben als Phi-Beta-Kappa-Student an der University of Kansas in Lawrence Ihr Examen summa cum laude gemacht. Das haben Sie geschafft, während Sie vier Jahre Baseball in der Uni-Liga gespielt haben - in Ihrem letzten Jahr hätten Sie fast den RBI-Rekord der Universität gebrochen. Ich finde das mehr als beeindruckend, Franco. Der umfassend gebildete Student. Gewissermaßen das Ideal der alten Griechen, nicht? Das wissen Sie natürlich, weil Sie in Ihrem zweiten Studienjahr von Altphilologie zur Psychologie gewechselt sind.«
Myrna Wimmer ging hinter ihren Schreibtisch und setzte sich. Sie sah
Weitere Kostenlose Bücher