Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Sog der Angst

Im Sog der Angst

Titel: Im Sog der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
eine Halbschwester hatte, die ich kaum kannte, und vielleicht aufhören sollte, mich wie ein selbstgerechter Trottel zu verhalten. Also versuchte ich Kontakt zu Christi aufzunehmen. Löcherte meine Großtante - die Schwester meiner Großmutter -, bis sie mir sagte, dass Christi immer noch in St. Paul lebte und ›Varietee machte‹. Ich rief in ein paar Striplokalen an und machte schließlich den Laden ausfindig, wo Christi auftrat. Sie war nicht glücklich, von mir zu hören, sehr distanziert. Also bestach ich sie, indem ich ihr telegraphisch hundert Dollar anwies. Danach begann sie, alle paar Monate anzurufen. Manchmal wollte sie nur reden, manchmal bat sie um Geld. Das schien sie zu stören - darum bitten zu müssen. Sie hatte auch einen schüchternen Zug, sie tat so, als könnte nichts sie erschüttern, aber sie konnte richtig lieb sein.«
    »Hat sie Ihnen weitere Einzelheiten über ihren Lebensstil verraten?«, fragte Milo.
    »Nur dass sie Tänzerin war, wir sind nie in die Details gegangen. Sie hat immer aus einem Lokal angerufen, ich konnte die Musik im Hintergrund hören. Manchmal dachte ich, dass sie sich high anhörte. Ich wollte nichts tun, was die Distanz zwischen uns vergrößert hätte. Ihr gefiel es, dass ich Lehrer war. Manchmal nannte sie mich ›Teach‹ anstelle meines Namens.«
    Marsh nahm seine Brille ab und wischte sie mit seiner Serviette ab. Ungeschützt sahen seine Augen klein und schwach aus. »Dann hörte sie auf anzurufen, und in dem Lokal sagten sie mir, sie wäre verschwunden, hätte keine Nachsendeadresse hinterlassen. Ich hörte mehr als ein Jahr nichts mehr von ihr, bis ich die Nachricht in meinem Fach in der Universität vorfand.«
    »Keine Ahnung, was sie in der Zwischenzeit gemacht hat?«
    Marsh schüttelte den Kopf. »Sie sagte, sie hätte genug mit dem Tanzen verdient, um sich eine Weile auszuruhen, aber ich machte mir meine Gedanken.«
    »Worüber?«
    »Ob sie in irgendwelche anderen Geschichten reingeraten war. Ich hab das verdrängt, weil ich keine Fakten in der Hand hatte.«
    »Andere Geschichten wie zum Beispiel …«<
    »Sich zu verkaufen«, sagte Marsh. »Das war noch eine Sache, die meine Großeltern mir immer über Christi erzählten. Sie wäre promiskuitiv. Sie benutzten einen weniger freundlichen Ausdruck. Ich wollte nichts davon hören.«
    Er nahm seine Tasse in die Hand, schaffte es, ein paar Schlucke Chai zu sich zu nehmen.
    »Christi hatte Lernschwierigkeiten, aber ich nehme an, sie konnte sich immer auf ihr Aussehen verlassen. Sie war ein außergewöhnlich schönes Kind. Dünn wie eine Bohnenstange, als sie klein war, weißblonde Haare bis zur Taille. Es war nie sauber oder gekämmt, und sie trug Sachen, die nicht zusammenpassten - Dad hatte keinen Schimmer. Manchmal, nicht oft, tauchte er unangekündigt mit ihr auf. Mein Großvater stürmte immer hinauf in sein Zimmer und kam nicht mehr runter. Großmutter nannte Christi das ›Gassenkind‹. Wie in: ›Hier kommen der Penner und das Gassenkind und klopfen an. Wir desinfizieren besser die Becher und Gläser.‹ Normalerweise flüchtete ich ebenfalls auf mein Zimmer. Einmal - Christi kann nicht älter als vier gewesen sein, also war ich vierzehn - rannte sie die Treppe hoch, riss meine Tür auf und warf sich regelrecht auf mich.« Marsh zog an der Haut, die seinen Unterkiefer bedeckte. »Sie umarmte mich, kitzelte mich, kicherte - ein Idiot hätte sehen können, dass sie um mich warb. Aber ich empfand es als Belästigung. Ich schrie sie an, sie solle aufhören. Brüllte. Und sie kletterte von mir runter, starrte mich mit diesem Blick in den Augen an. Und schlurfte hinaus. Ich hab sie wirklich niedergemacht.« Seine Augen waren trocken, aber er wischte sie ab. »Ich war vierzehn, was wusste ich denn schon.«
    »Was wissen Sie über ihr Leben in L.A.?«, fragte ich.
    »In L.A. hat sie mich nicht um Geld gebeten, das kann ich Ihnen sagen.« Er schob seine Teetasse zur Seite. »Ich glaube, das machte mir zu schaffen. Weil ich mich fragte, was sie wohl tat, um über die Runden zu kommen. Hat sie sich mit üblen Leuten eingelassen?«
    »Hat sie das angedeutet?«
    Marsh zögerte.
    »Sir?«
    »Sie hat mir einige wilde Geschichten erzählt«, sagte Marsh. »Beim letzten Mal, als wir miteinander sprachen, am Telefon …«<
    »Wie lange ist das her?«, fragte Milo.
    »Drei, vier Monate.«
    »Was für wilde Geschichten?«
    »Eher neben der Kappe als wild«, erwiderte Marsh. »Sie redete extrem schnell, so dass ich mich

Weitere Kostenlose Bücher