Im Sog der Angst
zu machen. Ich komme eines Tages rein und finde eine Nachricht in meinem Fach, dass meine Schwester angerufen hätte. Zuerst hielt ich es für einen Irrtum.« Cody Marsh zuckte zusammen. »Ich hielt mich nicht für jemanden, der eine Schwester hat. Christi und ich haben denselben Vater, aber verschiedene Mütter, und wir sind nicht zusammen aufgewachsen. Christi ist deutlich jünger als ich - ich bin dreiunddreißig, und sie ist … war dreiundzwanzig. Als sie alt genug für geschwisterliche Kontakte war, war ich schon in Oregon, also hatten wir keine richtige Beziehung.«
»Leben ihre Eltern noch?«
»Unser Vater ist tot. Und meine Mutter ebenfalls. Christis Mutter ist am Leben, aber sie hat schwere psychische Probleme und lebt seit Jahren in einer Anstalt.«
»Seit wie vielen Jahren?«, fragte ich.
»Seit Christis viertem Lebensjahr. Unser Vater war schwerer Alkoholiker. Soweit es mich betrifft, hat er meine Mutter umgebracht. Hat total betrunken im Bett geraucht. Meine Mutter war ebenfalls Trinkerin, aber die Zigarette gehörte ihm. Das Haus ist in Flammen aufgegangen, er hat es irgendwie geschafft hinauszutaumeln. Hat einen Arm und einen Teil seines Gesichts verloren, aber an seinen Trinkgewohnheiten hat sich dadurch nichts geändert. Ich war sieben und bin dann zu meinen Großeltern mütterlicherseits gezogen. Kurze Zeit später hat er Christis Mutter in einer Bar kennen gelernt und eine neue Familie gegründet.«
»Schwere psychische Probleme«, sagte ich.
»Carlene ist schizophren«, erklärte Marsh. »Deshalb hat sie sich mit einem einarmigen, narbengesichtigen Trinker zusammengetan. Ich bin sicher, dass es das Trinken war, was sie gemeinsam hatten. Ich bin sicher, dass das Trinken und das Zusammenleben mit meinem Vater ihren psychischen Zustand nicht verbessert hat. Ich habe Glück gehabt, meine Großeltern waren gebildet und religiös, sie waren beide Lehrer. Meine Mutter war als Sozialarbeiterin ausgebildet worden. Ihn zu heiraten war ihre große Rebellion.«
»Und er hat Christi aufgezogen, nachdem ihre Mutter eingewiesen worden war?«
»Von Aufziehen kann da kaum eine Rede sein. Ich kenne die Einzelheiten nicht, ich lebte damals in Baudette, und er nahm Christi mit nach St. Paul. Ich hörte, dass sie die High School abgebrochen hat, aber ich weiß nicht genau, in welcher Klasse. Später zog sie mit ihm nach Duluth - er hatte irgendeinen Job in der Landwirtschaft. Dann zurück nach St. Paul, in eine richtig schlimme Gegend.«
»Klingt so, als hätten Sie sich auf dem Laufenden gehalten«, sagte Milo.
»Nein«, erwiderte Marsh. »Ich hörte Dinge von meinen Großeltern. Gefiltert durch ihre Vorurteile.« Marsh ließ mehrere Haarsträhnen vor sein Gesicht fallen, strich sie dann wieder beiseite, schüttelte den Kopf. »Sie hassten meinen Vater, gaben ihm die Schuld am Tod meiner Mutter und an allem anderen, was mit der Welt nicht stimmte. Sie liebten es, seine Missgeschicke in allen Details wiederzugeben. Die Slumgegenden, in denen er zu wohnen gezwungen war, Christis Versagen in der Schule, ihr vorzeitiger Abgang. Die Schwierigkeiten, in die Christi geriet. Wir sprechen von redaktioneller Bearbeitung, nicht von simpler Berichterstattung. Sie betrachteten Christi als Verlängerung von ihm - die Bad-seed-Theorie. Sie wollten nichts mit ihr zu tun haben. Sie stammte nicht von ihnen ab. Also wurden Christi und ich auseinander gehalten.«
»In was für Schwierigkeiten ist Christi geraten?«, fragte ich.
»Die üblichen: Drogen, schlechte Gesellschaft, Ladendiebstahl. Meine Großeltern erzählten mir, dass sie in eins dieser Lager gesteckt worden sei, dann in die Jugendstrafanstalt. Zu einem Teil war es ihre Schadenfreude - sie weideten sich am Elend anderer. Zum anderen hing es damit zusammen, dass sie sich im tiefsten Innern Sorgen um mich machten. Weil ich genetisch zur Hälfte von meinem Vater abstammte. Also benutzten sie Dad und Christi als schlechte Beispiele. Damit rannten sie offene Türen ein, weil Christi alles repräsentierte, was ich an meiner Herkunft verachtete. Die Abschaumseite, wie meine Großeltern es nannten. Ich war ein guter Schüler mit gutem Benehmen, bestimmt für die besseren Dinge des Lebens. Das habe ich geschluckt. Erst nach meiner Scheidung …« Er lächelte. »Ich vergaß zu erwähnen, dass ich irgendwann unterwegs geheiratet habe. Das dauerte neunzehn Monate. Kurz nach der Scheidung starben meine Großeltern, und ich fühlte mich ziemlich einsam und begriff, dass ich
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