Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Sog der Angst

Im Sog der Angst

Titel: Im Sog der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
alt ist Ihr Sohn?«, fragte ich.
    »Zehn. Geht auf die dreißig zu. Er liebt Mathe und den ganzen Technokram. Er würde wissen, was man mit diesem miesen Stück Scheiße tun muss.« An Milo gewandt: »Ich glaube, Besprechungsraum A ist leer. Spielen wir Déjà vu.«

9
    Besprechungsraum A war ein drei mal vier Meter großes Zimmer mit niedriger Decke, das mit einem Klapptisch und Klappstühlen ausgestattet und derart hell erleuchtet war, dass ich ein Geständnis ablegen wollte. Auf der Rückenlehne der Stühle klebten Ausverkaufsschilder vom Wal-Mart. Auf dem Tisch lagen leere Pizzakartons. Milo schob sie ans andere Ende und setzte sich. Lorraine Ogden und ich nahmen seitlich von ihm Platz.
    Sie nahm die Newsome-Akte, blätterte sie durch, blieb an den Obduktionsfotos hängen und starrte lange auf ein dreizehn mal achtzehn großes Hochglanzfoto.
    »Arme Flora«, sagte sie. »Das ist das Bild von ihrer Abschlussfeier. Cal State L.A., wo sie ihre Lehrbefugnis bekommen hat.«
    »Sie war einunddreißig, als sie starb«, sagte Milo. »Ein altes Foto?«
    »Nicht so alt. Sie hat sich Zeit gelassen und zwischen dem College und dem Studium als Sekretärin gearbeitet. Hatte gerade im Jahr zuvor ihren Abschluss gemacht. Sie war dabei, ihr Probejahr an der Schule zu beenden. Der Schulleiter mochte sie, die Kinder mochten sie, man hätte sie gebeten, an der Schule zu bleiben.« Ihr Fingernagel schnipste gegen die Kante des Fotos. »Ihre Mutter hat uns das hier gegeben, hat großen Wert darauf gelegt, uns zu sagen, dass wir es behalten sollten - sie hat zu mir und Al eine ganz enge Beziehung entwickelt. Eine nette Frau, sie hatte Vertrauen zu uns, hat uns nie genervt, nur ab und zu angerufen, um uns zu danken, um uns mitzuteilen, dass sie sicher war, wir würden den Fall lösen.« Ihre Nasenflügel blähten sich. »Muss ein halbes Jahr her sein, dass ich das letzte Mal von ihr gehört habe. Arme Mrs. Newsome. Evelyn Newsome.«
    »Darf ich?«, fragte ich, und sie schob mir den Aktenordner über den Tisch.
    Zu Lebzeiten war Flora Newsome auf eine unauffällige Art attraktiv gewesen. Breites Gesicht, klarer Teint, dunkle Haare, die in Locken bis auf die Schulter fielen, und strahlende, blassbraune Augen. Für ihr Abschlussfoto hatte sie einen flauschigen weißen Pullover angezogen, auf dem eine dünne Goldkette mit einem Kruzifix ruhte. Auf der Rückseite des Bildes stand geschrieben: »Für Mom und Dad. Ich hab’s endlich geschafft!« Blaue Tinte, schöne Handschrift.
    »Mom und Dad«, sagte ich.
    »Dad ist zwei Monate nach Floras Studienabschluss gestorben. Mom ging es auch nicht so toll - schwere Arthritis. Sie ist sechzig Jahre alt, sah aber aus wie fünfundsiebzig. Nachdem Flora ermordet worden war, hat sie ihr Haus aufgegeben und ist in eins dieser Häuser mit betreutem Wohnen eingezogen. Wenn man da nicht mit Lichtgeschwindigkeit alt wird … Floras Freund hat sie gegen halb zwölf am Sonntagmorgen gefunden. Die beiden hatten sich zu einem Brunch verabredet und wollten rüber zum Bobby J’s in der Marina fahren.« Sie schnaubte. »Komisch, dass ich mich ausgerechnet daran erinnere. Wir haben das überprüft, das Restaurant bestätigte die Reservierung. Der Freund kommt an, klopft, niemand macht die Tür auf. Er versucht es weiter, benutzt schließlich sein Mobiltelefon, um Flora anzurufen, immer noch nichts. Er schlägt an ihr Fenster, versucht durchzusehen, aber die Vorhänge versperren ihm die Sicht. Also geht er den Hausverwalter holen. Der ihn nicht reinlassen wollte - er hat den Freund schon mal gesehen, kennt ihn aber nicht wirklich. Der Freund macht Theater, er würde die Cops holen, und der Verwalter ist einverstanden damit, dass sie einen kurzen Blick reinwerfen. Eine Minute später kotzt der Verwalter in die Büsche, und der Freund ruft 911 an und schreit nach einem Krankenwagen. Nicht dass eine Chance bestanden hätte. Der Gerichtsmediziner sagt, dass sie gegen Mitternacht getötet wurde.«
    Sie zeigte auf die Akte. Ich schob sie ihr wieder zu, und sie überflog sie noch einmal. »Stich- und Schussverletzungen. Wir haben vierunddreißig Wunden gezählt - ein richter Overkill. Und ja, hier ist eine, direkt unter dem Sternum. Der Gerichtsmediziner sagt, der Mörder hätte es voll ausgekostet, indem er das Messer in der Wunde gedreht hat. Jede Menge Blut. Große Klinge, eine Schneide wie ein Schlachtermesser. Flora hatte einen Messersatz in ihrer Küche, einen dieser Holzblöcke mit Aussparungen für jedes Messer,

Weitere Kostenlose Bücher