Im Sog der Gefahr
ein Windjammer sein.« Sie las aus ihren Notizen ab. »›Ein Segelschiff mit eisernem Rumpf, das im späten neunzehnten Jahrhundert gebaut wurde.‹ Aber sie sagen auch, dass in dieser Gegend auf jeden Küstenkilometer ein gesunkenes Schiff kommt. Sobald sie die Freigabe zum Tauchen bekommen, wollen sie es vermessen und identifizieren.«
»Das sollte bald der Fall sein«, sagte Holly.
»Vielleicht hat jemand über alte Familienbeziehungen von dem Wrack erfahren und es geheim gehalten«, vermutete Jeff.
»Das ist ein verflixt großer Zufall, dass dort eine Leiche abgeladen wird, nachdem der Wissenschaftler nur wenige Tage zuvor seine tollen, neuen Meeresnacktschnecken gefunden hat.«
Polizisten hielten nicht viel von Zufällen. Holly presste die Lippen zusammen. »Es gibt zwei Möglichkeiten, warum der Mörder die Leiche dort unten versteckt hat. Erstens«, sie hielt einen Finger hoch, »wusste derjenige nichts von der Entdeckung des Wracks und wollte verhindern, dass die Leiche überraschend angespült wird. Zweitens: Derjenige wusste von der Entdeckung des Wracks und wollte die Aufmerksamkeit auf Carver und Edgefield lenken, indem die beiden die Leiche fanden.«
»Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen.« Chastain tippte mit seinem Stift auf die Armlehne des Sofas. Sein Handy klingelte, aber er ignorierte es. Als er ihren Blick bemerkte, zog er eine Grimasse. »Meine Verlobte. Will wahrscheinlich wissen, welche Farben die Bänder an den Kleidern der Blumenmädchen haben sollen.«
Malone lachte.
»Also stehen wir im Grunde wieder am Anfang?«, fragte Corporal Messenger leise.
»Nicht ganz. Wir haben Milbanks Partner in Port Alberni, die sich verdächtig verhalten, und jemand hat seine Wohnung verwüstet. Ich glaube, dass Milbank in Alkohol-und Drogenschmuggelgeschäfte für Dryzek verwickelt war und der deshalb so nervös wurde, als der Mann nicht mehr auftauchte.«
Wie Holly wusste, wurden solche kleinen Küstengemeinden häufiger von Verbrecherorganisationen für ihre Zwecke benutzt. Auch als Umschlagplätze für Schmuggler dienten sie oft. Vielleicht war Milbanks Tod nur die Folge eines schiefgelaufenen Drogendeals. »Jeff, Sie sprechen bitte mit den Leuten vom West Coast Marine Service und fragen nach, ob sie entlang der Küste irgendwelche Gerüchte gehört haben.«
Jeff nickte.
»Ich glaube, wir machen irgendjemanden nervös. Sonst hätte gestern wohl kaum jemand versucht, mich von der Straße abzudrängen.« Sie fasste sich an die Nase, die entsetzlich wehtat.
»Es sei denn, es war etwas Persönliches«, wagte sich Malone vor.
»Niemand hasst mich so sehr«, sagte Holly. Aber das beunruhigte Flüstern in ihrem Kopf konnte sie damit nicht zum Verstummen bringen. Irgendetwas kam ihr komisch vor. Sie brauchte mehr Informationen, aber die verschwiegene, geheimniskrämerische Eigenart dieses Dorfs machte es unwahrscheinlich, dass sie sie bekommen würde.
Jeff las in den Akten auf seinem Laptop. »In den frühen Neunzigern war Len Milbank im VIRCC , der regionalen Strafvollzugsanstalt von Vancouver Island. Saß zwei Jahre wegen bewaffneten Raubüberfalls.«
»Zwei Jahre?« Holly schüttelte den Kopf. Manchmal fragte sie sich, warum sie sich überhaupt die Mühe machten, zum Dienst anzutreten.
»Und wie sich herausstellte, war dort zur selben Zeit noch jemand aus Bamfield inhaftiert.«
Das Blut stockte ihr in den Adern, als sie erwartungsvoll die Luft anhielt.
»Brent Carver. Finn Carvers großer Bruder.«
Ihr fiel wieder ein, dass Dryzek und Ferdinand gestern ›Carver‹ gesagt hatten. Sie hatte angenommen, sie hätten Finn gemeint, aber vielleicht hatte sie sich da geirrt. »Brent hat eingesessen, weil er seinen und Finns Vater erschlagen hat, richtig?«
Chastain nickte. »Hat ihm eine Bierflasche über den Kopf gezogen. Muss einen ziemlich harten Schlag gehabt haben. Er wurde als Erwachsener angeklagt und wegen Mordes mit bedingtem Vorsatz verurteilt. Hat zwanzig Jahre gesessen.«
Meistens waren die Haftstrafen, zu denen Kriminelle verurteilt wurden, nicht lang genug, aber angesichts der mildernden Umstände erschien Holly dieses Urteil etwas hart. Mit Unbehagen bemerkte sie, wie schmerzlich sie die Vorstellung erschütterte, welche Kindheit die beiden Jungen hatten erdulden müssen. Sie durfte nicht zulassen, dass ihr Urteilsvermögen dadurch getrübt wurde.
»Vor drei Jahren wurde Brent Carver entlassen. Er ist noch keine vierzig.«
»Ich werde wohl heute mit ihm sprechen«, sagte
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