Im Sog der Gefahr
Stirn, die genau zu den Fotos seiner wunderschönen, verschollenen Tochter Leah passten. »Noch nicht.«
Sie schien von seiner Antwort nicht überrascht. »In diesem Etwas, das man Leben nennt, haben wir nur eine einzige Chance, Thom. Und niemand von uns weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt, bevor es vorbei ist. Denken Sie mal darüber nach.«
Thom starrte auf die dünnen Dampfschwaden, die von seinem Kaffee aufstiegen. Er wollte nicht darüber nachdenken. Und das bedeutete, dass er in diesem albtraumhaften Tag feststeckte, der nun drei Jahrzehnte zurücklag. Dass er noch einmal die Panik durchlebte, seine Frau und seine Kinder nicht finden zu können, die Angst, sie könnte ihn verlassen haben, das entsetzliche Wissen, dass etwas nicht stimmte, die Verzweiflung, als man ihre Leichen fand, und dann die endlose Suche nach seiner Tochter.
Als der Bildschirm schwarz wurde, sah er im Monitor sein Spiegelbild und erschrak vor dem alten Mann, der ihm entgegenblickte. Speichel sammelte sich in seinem Mund, bis er fast daran erstickte.
Hätte Bianca in der umgekehrten Situation ihr Leben damit zugebracht, nach seinem Mörder zu suchen? Er wusste, dass sie es nicht getan hätte. Aber in mancher Hinsicht wurde es dadurch umso unausweichlicher, den Täter zu finden. Bianca hatte ihn nicht auf die gleiche Weise geliebt wie er sie, und trotzdem war sie bei ihm geblieben. Seinetwegen war sie nach Bamfield gekommen, also war sie seinetwegen gestorben. Und der Gedanke daran, seine Kinder aufzugeben, sie endlich und endgültig loszulassen …
Er schaltete den Monitor wieder ein und starrte auf das einzige Familienfoto, das er besaß. Es war draußen im Gras aufgenommen worden, genau vor diesem Haus, einen Tag bevor sie ihm für immer genommen worden waren. Wie konnte ein Mann seine Familie aufgeben? Eher würde er sterben.
»Wovon um alles in der Welt lebt dieser Kerl?« Holly und Malone wechselten einen Blick und sahen dann wieder zu dem enormen Luxusholzhaus mit Meerblick.
Auf Malones Gesicht lag Abscheu. Hollys Miene hätte überraschtes Misstrauen zeigen sollen, aber ihre Gesichtsmuskeln waren mit schmerzhaften Schwellungen und farbenfrohen Blutergüssen überzogen. Heute würde sie sich nicht auf die Wirkung ihres freundlichen Lächelns verlassen können.
Abermals klopfte sie an die Tür, doch niemand öffnete. Beide zuckten die Schultern und stapften zur Rückseite des Hauses.
»
Das
ist mal eine Aussicht.« Malone stieß einen Pfiff aus.
In der Nähe lagen einige felsige, baumbestandene Inseln, und weit im Nordosten waren die Berge zu sehen, die sich im Hinterland der Insel erhoben. Doch im Westen erstreckte sich bis zum Horizont nur das tief indigoblaue Wasser des Pazifiks.
»Hier sind sie aufgewachsen.« Holly sah sich um. Nichts erinnerte mehr an die erdrückende Armut oder den gewaltsamen Tod von damals. Stattdessen stand hier in einsamer Pracht ein gewaltiges Eine-Million-Dollar-Haus mit riesigen Fenstern zur Seeseite. Sie klopfte noch einmal an die Tür, fester diesmal, und jetzt war im Inneren ein Geräusch zu vernehmen.
Unvermittelt wurde die Tür geöffnet, und vor ihnen stand ein großer, langgliedriger Mann, dessen blonde Haare ihm an einer Seite vom Kopf abstanden; seine Augen waren blutunterlaufen und verschleiert. Er lief barfuß, trug Jeans und ein zerlumptes T-Shirt. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, in denen eine ganze Menge mehr Erfahrung lag, als es seinem Alter angemessen gewesen wäre.
»Mr Carver? Brent Carver? Dürfen wir reinkommen?«
Als er ihr zerschlagenes Gesicht sah, flackerte Interesse in seinen Augen auf, doch er sagte nichts dazu, sondern schüttelte nur den Kopf. Er wandte sich ab und schlurfte lustlos davon.
Holly und Malone wechselten einen Blick, dann folgten sie ihm ins Haus. Drinnen war es blendend hell, da Oberlichter die Morgensonne wunderbar einfingen. Schließlich gelangten sie in eine riesige, offene Küche, die sich auch in einer Wohnzeitschrift gut gemacht hätte.
Brent Carver deutete auf eine Kaffeekanne. »Bedienen Sie sich.« Dann ließ er sich auf ein marineblaues Sofa fallen und stützte den Kopf in die Hand, während er seinen Kaffee hinunterkippte.
Er sah aus wie ein Mann, der vor zehn Jahren angefangen hatte, sich volllaufen zu lassen, und seitdem nicht mehr damit aufgehört hatte.
Obwohl der Kaffee verlockend war, verzichtete Holly darauf, eine Tasse anzunehmen. »Wir haben ein paar Fragen zu einem Mann namens Len Milbank.«
»Hab gehört,
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