Im Sog der Sinnlichkeit
würde sich hüten, Gerüchte über eine Verlobung ihres vermeintlichen Verehrers in die Welt zu setzen, denn das würde ein denkbar schlechtes Licht auf sie werfen. Ihm blieben noch ein paar Tage, um seine Gedanken zu ordnen.
„Brandon“, sagte er und marschierte in die Halle, wo Lucien de Malheur immer noch mit einem spöttischen Lächeln auf der Polsterbank ausgestreckt lag. Bei Benedicks Erscheinen richtete er sich auf, als erwarte er die nächste Attacke.
„Ich bringe dich nicht um, noch nicht“, sagte Benedick grimmig. „Wir müssen Brandon finden.“
„Du wirst mich nie umbringen“, entgegnete Lucien seelenruhig, griff nach dem Goldknauf seines Gehstocks und kam geschmeidig auf die Beine. „Geh du voran, Schwager.“
30. KAPITEL
E s begann mit einem leisen Kratzen an ihrer Schlafzimmertür, die Miranda abgesperrt hatte, bevor sie auf dem Bett zusammengebrochen war. Sie achtete nicht darauf. Es war früher Morgen, sie hatte sich erst vor Kurzem hingelegt und wollte nicht geweckt werden. Sie vergrub Kopf und Ohren in ihrem Kissen, doch aus dem Kratzen wurde ein leises Klopfen.
„Mach bitte auf, Melisande“, drang Emmas Stimme gedämpft durch die Tür. „Ich muss mit dir reden.“
Melisande wollte mit niemandem reden. Emma wusste genau, dass sie letzte Nacht nicht nach Hause gekommen war, und auch, wo sie die Nacht verbracht und was sie getan hatte. Und darüber wollte Melisande keinesfalls reden.
Das Klopfen wurde lauter, es drang durch das Federkissen und den Laudanumnebel, der sie betäubte. Melisande drehte sich stöhnend auf den Rücken. Sie hatte die Vorhänge nicht zugezogen und die aufgehende Sonne blendete sie. Es konnte nicht später als sechs Uhr morgens sein. Wieso wurde sie in aller Herrgottsfrühe geweckt, nachdem sie die ganze Nacht auf gewesen …
… Und erst gegen neun Uhr nach Hause gekommen war. Sie hatte einen Tag und eine Nacht durchgeschlafen, eingehüllt von ihrem Unglück und Laudanum. Und der Vollmond war um einen Tag näher gerückt.
Emma schlug nun so heftig gegen die Tür, dass die Füllung erzitterte. Melisande setzte sich auf, kroch aus dem Bett und nahm vage wahr, dass ihr Knöchel kaum noch schmerzte, als sie zur Tür wankte. Allerdings schmerzten Muskeln an Körperstellen, wo sie gar keine vermutet hätte. Und an die Ursache wollte sie schon gar nicht denken.
Als sie endlich die Tür öffnete, trommelte Emma mit beiden Fäusten dagegen. Ein Blick in ihr Gesicht genügte, um Melisandes wundes Herz einen erschrockenen Satz machen zu lassen. Etwas Furchtbares war geschehen!
Hinter Emma drängten sich die ängstlichen Mädchen in Nachthemden. „Wann hast du Betsey zuletzt gesehen?“, fragte Emma atemlos.
„Heute früh“, antwortete Melisande ohne nachzudenken.
„Gott sei Dank.“
„Glaube ich wenigstens“, fügte sie unschlüssig hinzu. „Welcher Tag ist heute? Freitag?“
Emmas Erleichterung schwand. „Nein, Samstag. Du hast rund um die Uhr geschlafen. Heißt das, du hast Betsey gestern zum letzten Mal gesehen? Wo denn?“
„In der Bibliothek. Wir haben uns kurz unterhalten. Sie hatte Sehnsucht nach Aileen und machte sich Sorgen um ihre Zukunft. Ich sagte, sie kann so lange bei uns bleiben, wie sie möchte, und dann wollte sie in die Küche. Hast du Mollie Biscuits schon gefragt?“
„Natürlich!“ Emmas sonstige Ruhe war Panik gewichen. „Sie sagte, Betsey habe ihr beim Brotbacken geholfen, dann nahm sie sich ein paar Pastetchen, die sie draußen in der Sonne essen wollte. Mollie vermutet, dass sie zum St. James’s Park gegangen ist, aber das wissen wir nicht. Sie kann auch weiterspaziert sein zum Green Park oder sogar bis zum Hyde Park. Und sie kam nicht zurück. Nicht zum Tee, nicht zum Abendessen, und ihr Bett ist unbenutzt.“
„Sie ist nicht einfach fortgelaufen“, sagte Melisande tonlos und hatte Mühe, klar zu denken, weil das verdammte Laudanum immer noch wirkte.
„Natürlich nicht. Und das kann nur eines bedeuten.“
Die Mädchen spitzten neugierig die Ohren, aber als ehemalige Dirnen kannten sie die Antwort. „Sie wurde entführt.“
„Nein!“ Mollie Biscuits schluchzte laut, Tränen liefen ihr über die runden Wangen. „Nicht das arme Kind!“
„Das waren die Kerle vom Satanischen Bund“, zwitscherte Violet mit ihrer Piepsstimme, worauf die anderen Mädchen aufgeregt durcheinanderredeten, so laut, dass Melisande sich die Ohren zuhielt.
„Schluss damit!“, rief Emma und brachte den Lärm zum Verstummen. „Wenn
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