Im Sog der Sinnlichkeit
der zweistündigen Fahrt hatte sie genügend Zeit, sich für die bevorstehende Rettungsaktion zu wappnen. Der Kutscher meldete Bedenken an, seinen Fahrgast mutterseelenallein irgendwo auf der Landstraße abzusetzen. Doch die Handvoll Münzen, die Melisande ihm aushändigte, beschwichtigte ihn. Es war noch früh am Nachmittag, der Himmel war zwar bewölkt, aber die Luft mild, als sie wartete, bis der Wagen ihren Blicken entschwunden war. Dann suchte sie Schutz hinter einem Gebüsch und streifte die Kutte über, sah sich jedoch gezwungen, ihre drei Unterröcke unter dem Mönchsgewand auszuziehen, um nicht aufzufallen. Sie musste ohnehin darauf achten, niemanden zu nahe an sich heranzulassen.
Rohan hatte ihr während ihres ersten Erkundigungsritts nach Kersley Hall erzählt, dass früher Gäste im Satanischen Bund als unbeteiligte Zuschauer geduldet waren. Wenn sie am Ärmel ihrer Mönchskutte ein weißes Band trugen und ein Schweigegebot einhielten, durften sie sich unter die Feiernden mischen, ohne angesprochen oder aufgefordert zu werden, sich an den Ausschweifungen zu beteiligen. Sie hatte nicht danach gefragt, woher er diese Information hatte. Da dieser Brauch, wie er behauptet hatte, allerdings vor Jahren üblich war, waren begründete Zweifel angebracht, ob diese Regel auch heute noch galt. Ihr blieb jedoch keine andere Wahl, sie musste es einfach darauf ankommen lassen. Sie konnte ja nicht als Charity Carstairs, Wohltäterin und Retterin gefallener Mädchen, im Kreis dieser lüsternen Wüstlinge erscheinen.
Die Heilung ihres verletzten Knöchels hatte sie allerdings überschätzt. Hinkend näherte sie sich den Ruinen von Kersley Hall und konnte nur hoffen, dass sie nicht entdeckt wurde.
Sie hatte fast zu lange gewartet. Morgen war die Vollmondnacht, in der eine Jungfrau geopfert werden sollte, ein Ritual, das mit Sicherheit nichts mit einem alten heidnischen Kult zu tun hatte. Dieses grausige Blutopfer war lediglich den kranken Hirnen lasterhafter Rohlinge entsprungen.
Die verkohlten Ruinen von Kersley Hall ragten düster und gespenstisch in den Himmel wie bei ihrem letzten Besuch mit Rohan. Sie näherte sich der Einsturzstelle, wo sie mit Rohan in die Tiefe gerissen worden war und sich den Knöchel verletzt hatte. Das Erdreich könnte durch heftige Regenfälle nachgegeben haben, und sie hoffte, dass man den Einsturz darauf zurückgeführt hatte. Wenn nicht, bestand die beängstigende Möglichkeit, dass der Geheimbund dieses Treffen an einen anderen Ort verlegt hatte.
Sie zog sich die Kapuze der Mönchskutte tief in die Stirn und versuchte, nicht zu hinken. Meist spürte sie, wenn sie heimlich beobachtet wurde, doch dieses höchst unangenehme Gefühl beschlich sie im Moment nicht. Vorsichtig tastete sie sich an der Mauer der ehemaligen Molkerei entlang und spähte durch ein rußgeschwärztes kleines Fenster. Keine Menschenseele. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, ihre Handflächen waren feucht. Der Mut drohte sie zu verlassen. Vor Benedick Rohan die Flucht zu ergreifen war eine Sache, das ging nur sie etwas an. Aber nicht um alles in der Welt würde sie vor dieser Gefahr davonlaufen und einen Menschen in Todesnot im Stich lassen.
Sie bog um die Ecke, schob den Riegel der verwitterten Holztür zurück, trat ein und stand im Dunkeln. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Dann näherte sie sich der Tür, die in die unterirdischen Gänge führte, und erschrak.
Die Tür war mit einem riesigen Vorhängeschloss und einer schweren Kette gesichert.
Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als umzukehren und durch die Einsturzstelle nach unten zu klettern, ohne auf ihrem verletzten Knöchel zu landen. Beim ersten Mal war sie relativ weich auf den Körper eines kräftigen Mannes gefallen und hatte sich dennoch verletzt. Doch sie wollte nicht an eine Berührung durch Rohan denken. Das half ihr im Moment nicht weiter.
Sie war wieder am Eingang, als sie etwas über sich hörte. Ein scharrendes Geräusch, lauter, als Ratten es verursachen könnten. Sie erstarrte, ihre Nackenhaare sträubten sich. Ein Mitglied des Satanischen Bundes würde sich wohl kaum verstecken, überlegte sie und zwang sich zur Ruhe.
Im hinteren Winkel des kahlen Raumes führte eine schmale Holzstiege nach oben. Bevor sie aller Mut verließ, erklomm sie möglichst geräuschlos die Stufen und erreichte einen dunklen schmalen Flur mit zwei verbarrikadierten Türen. In der linken Tür war weit oben eine
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