Im Sog der Sinnlichkeit
die richtigen Vorkehrungen treffen“, sagte Emma und fixierte Melisande mit einem langen eindringlichen Blick. „Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, dich von deinem Vorhaben abzubringen?“
Melisande schüttelte bedächtig den Kopf in einer Mischung aus Unbehagen und Entschlossenheit.
„Dann, meine Damen, wollen wir dafür sorgen, dass sie unwiderstehlich aussieht“, verkündete Emma. „Hetty, wo ist dein Smaragdschmuck?“
21. KAPITEL
N achdem Melisande mit Miss Mackenzie, die diesem Unterfangen höchste Skepsis entgegenbrachte, das Haus verlassen hatte, saß Emma allein in der Bibliothek. Die Freundin hatte sich durch nichts von ihrer spontanen Entscheidung abbringen lassen, und Emma war im Grunde genommen nicht überrascht. Sie hatte die Anzeichen seit Tagen bemerkt und wusste genau, was passierte, wenn das Blut in Wallung geriet; sie hatte es oft genug erlebt. Kein Wunder also, dass Melisande dem Verlangen erlag, das der verwegene Viscount Rohan in ihr geweckt hatte. Auch sie selbst war vor ein paar Monaten – zum ersten Mal in ihrem Leben – beinahe in Versuchung geführt worden.
Ihr freiwilliger Dienst im Hospital, mit dem sie Buße für ihre Sünden zu tun gedachte, war nervenaufreibend gewesen, nichts für verzagte und schwache Gemüter. Sie hatte tröstend die Hände sterbender Patienten gestreichelt, ohne ihnen ins Gesicht zu schauen. Bis zu jener Nacht.
Der junge Soldat, kaum den Kinderschuhen entwachsen, hätte gar nicht in dieses Hospital eingeliefert werden dürfen. Angehörige seiner Gesellschaftsschicht wurden zu Hause von den besten Ärzten medizinisch versorgt und von geschulten Krankenschwestern und Bediensteten gepflegt. Aber als Lord Brandon Rohan mit dem Schiff in die Heimat zurückkehrte, lag er im Fieberdelirium, und seine Ausweispapiere waren irgendwie verloren gegangen. Niemand wusste, wer er war, nicht einmal, dass es sich um einen Offizier handelte. Also wurde er, wie so viele andere Kriegsverletzte auch, in dieses stinkende Hospital gekarrt und mehr oder weniger seinem Schicksal überlassen.
Er hatte noch alle Gliedmaßen, aber ein Bein war grausam verstümmelt. Er würde nie wieder richtig gehen können, vorausgesetzt, er würde so lange leben, bis seine Identität geklärt war und er zu seiner Familie gebracht werden konnte. Die Narben, die seinen einst kraftvollen jungen Körper bedeckten, zeugten von den Gräueln, die er ausgestanden hatte. Eine Hälfte seines hübschen Gesichts war völlig entstellt. Er war am Ende eines langen anstrengenden Tages eingeliefert worden, und ein Blick auf ihn hatte Emma genügt, um zu wissen, dass er sterben würde. Nicht an seinen grauenvollen Verletzungen – alle Wunden waren von Militärärzten gut versorgt worden, und dank seiner kräftigen Konstitution würde er sich körperlich davon erholen. Aber dann hatte er seine Augen geöffnet, und am fiebrigen Glanz hatte sie erkannt, dass er sich aufgegeben hatte.
Sie hatte dieses von katholischen Nonnen geführte Krankenhaus gewählt im Wissen darum, dass ihre Familie, in der alle Katholiken verhasst waren, sie dafür verflucht hätte. Mutter Mary Clement hatte ihr die Pflege des jungen Mannes anvertraut, und Emma hatte keine Einwände dagegen erhoben. Sie hatte die weißen Vorhänge um sein Krankenbett zugezogen und sich darauf vorbereitet, ihm in seiner Todesstunde Beistand zu leisten.
Sie hatte seine Verbände gewechselt, ohne vor den Wunden zurückzuschrecken. Sie konnte keinen Fäulnisgestank feststellen, sein hohes Fieber rührte nicht von seinen Verletzungen, die allesamt ohne Wundbrand heilten. Er lag reglos im Bett, als sie seinen Körper mit lauwarmem Wasser wusch, um das Fieber zu senken.
Währenddessen redete sie in leisem Singsang auf ihn ein, versuchte, ihn mit belanglosen Trostworten ruhig zu halten. Sterbende waren häufig so weit entfernt vom Diesseits, dass menschliche Stimmen sie nicht mehr erreichten und sie die Berührungen ihrer Pfleger nicht spürten; in seltenen Fällen aber konnte eine Stimme oder eine Berührung den Patienten doch wieder zurückholen. Sie deckte ihn zu, setzte sich auf den wackligen Stuhl neben sein Bett und rieb sich zerstreut den schmerzenden Rücken. „Wirst du sterben, junger Mann?“, fragte sie leise und fühlte sich so alt wie eine Großmutter. „Du musst nicht sterben. Du kannst dagegen ankämpfen. Du bist jung und stark. Du bist weit besser dran als die meisten Männer in diesem Hospital, hast kein Bein und keinen Arm verloren.
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