Im Sog der Sinnlichkeit
Witwe galt als Freiwild, und früher oder später würde ein Mann die Mauer gelassener Gleichmut, hinter der Melisande sich verschanzte, einreißen. Er selbst hatte ja den Befestigungswall ihrer Trutzburg bereits zum Erbeben gebracht. Es bedurfte nur noch eines wagemutigen Mannes, um den Durchbruch zu schaffen.
Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Unmutsfalte. Um Himmels willen, hoffentlich würde dieser nicht wieder so ein Nichtsnutz wie Wilfred Hunnicut sein! Benedick hätte ihr, weiß Gott, einen besseren Geschmack zugetraut. In Gedanken ging er die Liste seiner Bekannten durch, welcher Kandidat für sie infrage käme. Sie brauchte einen innerlich gefestigten Ehemann, der sie vor sprunghaften Entscheidungen bewahrte. Einen Mann, der Verständnis für ihre guten Werke zeigte und sie darin unterstützte, und keinen gesinnungslosen Kerl, der sich womöglich hinter ihrem Rücken an ihren labilen Schützlingen vergriff.
„Mylord?“ Richmonds Stimme klang besorgt. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
Benedick nahm ihm die Halsbinde aus der Hand. „Was soll nicht in Ordnung sein?“, fragte er gereizt und wandte sich dem Spiegel zu, um sie umzubinden; dabei blickte er in sein ausgesprochen finsteres Konterfei.
Sein Vater hatte ebenso düster dreingeblickt, wenn er mit Ungerechtigkeit oder Täuschung konfrontiert war. In einer ähnlichen Verfassung hatte Benedick sich damals befunden, als er mit seinen Brüdern nach Norden in den Lake Distrikt gereist war zur Taufe von Mirandas Erstgeborenem und begriff, dass er den Schurken, den sie liebte und geheiratet hatte, akzeptieren musste.
Jedem Mann, den Charity Carstairs eventuell heiraten würde, würde er Abneigung entgegenbringen – was für ein absurder Gedanke! Sie träfe kaum wohl eine ähnlich grässliche Wahl wie seine Schwester mit dem Skorpion, Lucien de Malheur. Der war nicht nur ein Schurke im herkömmlichen Sinne. Benedick kannte keinen Mann der Londoner Gesellschaft, der sich an Verworfenheit mit ihm messen könnte.
Abgesehen natürlich von den Mitgliedern des Satanischen Bundes und ihres mysteriösen Vorsitzenden, der für ihre ruchlosen Umtriebe verantwortlich war.
Benedick setzte eine gleichmütige Miene auf und band die Halsbinde um. Wenigstens war die anstrengende Lady Carstairs für die nächsten zwei Wochen außer Gefecht gesetzt, und er konnte sich ohne ihre Einmischung auf den Geheimbund konzentrieren. Ohne ihre Nähe ertragen zu müssen. Ohne in Versuchung zu geraten.
Worthington House am Grosvenor Square war ein protziges Gebäude, gegen Ende des letzten Jahrhunderts erbaut, um das Ansehen und die politische Macht der Familie zu demonstrieren. Er bezweifelte, dass der Duke und die Duchess Verbindungen zum Satanischen Bund hatten, aber die Gästeliste zu ihrem alljährlich stattfindenden Ball war sehr lang. Niemand wagte die Einladung abzulehnen, um nicht unhöflich zu erscheinen und sich zur Strafe in einem deutlich niederen Rang der Gesellschaftsordnung wiederzufinden. Das wiederum bedeutete, dass sämtliche Mitglieder des Bundes anwesend sein würden und vermutlich der Vollmondnacht bereits entgegenfieberten. Am Nachmittag hatte Benedick in seiner riesigen Bibliothek gestöbert. Nach altem keltischen Glauben wurde bald das Fest von Beltane gefeiert, das Fest der Maiengöttin, wobei er sich ziemlich sicher war, dass seine heidnischen Vorfahren weder Blutopfer gebracht noch die Vergewaltigung von Jungfrauen als Bestandteil der Feierlichkeiten gesehen hatten. Aus seiner Studentenzeit in Oxford wusste er allerdings auch, dass alte Riten beliebig ausgelegt und mit neuer Bedeutung versehen wurden. Es gab ein Studienfach über alte Religionen und heidnische Mythologie, das einige seiner Kommilitonen belegt hatten, allerdings konnte er sich nach so langer Zeit nicht mehr an ihre Namen erinnern. Könnte einer seiner Mitstudenten von damals der heutige Anführer des Satanischen Bundes sein?
Vielleicht würde es sein Gedächtnis auffrischen, wenn er heute Abend einige Studenten von damals wiedersah.
Er wandte sich an Richmond. „Sie können dem Personal freigeben, Richmond, und sich zur Ruhe begeben. Ich werde spät nach Hause kommen und brauche Ihre Hilfe nicht beim Zubettgehen.“
„Und was ist mit Master Brandon, Mylord?“
Benedick dachte an den kurzen Wortwechsel, den er heute mit seinem Bruder geführt hatte. „Er wird die Nacht nicht hier verbringen, nehme ich an.“
„Sehr wohl, Mylord.“ Richmonds Miene zeigte keinerlei Regung.
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