Im Sog Des Boesen
Soziopathentheorie stimmst du also zu?«
Alyssa nickte. »Meiner Ansicht nach sind ›psychische Störungen‹ lediglich extreme Ausprägungen der Normalität. Ich zum Beispiel neige zu Manien. Fast jeder dürfte jemanden kennen, der einen Hang zur Paranoia hat. Das Verhalten vieler kreativer Menschen grenzt an Schizophrenie; sie bewegen sich in Parallelwelten, die ihnen selbst ganz natürlich erscheinen. Die meisten erfolgreichen Geschäftsleute sind Soziopathen und lassen sich nichts von anderen gefallen. Wer ein Unternehmen aufbaut, verletzt andere, das weißt du selbst als früherer Chef von Davenport Simulations am besten.«
»Ich hab das Unternehmen nicht aufgebaut«, erwiderte Lucas. »Hätte ich gar nicht gekonnt, weil ich nicht wusste, wie man so etwas macht. Das habe ich einem andern überlassen, und in dem Moment, als ich anfing, ihm im Weg zu sein, bin ich mit meinem Anteil ausgeschieden.«
»Dann warst du also nicht Soziopath genug.«
»Möglich.«
»Hattest du bei deiner Entscheidung, das Unternehmen aufzugeben, das Gefühl, von deinem Partner gedrängt zu werden?«
»Ein bisschen, ja.«
»Siehst du? Dann ist er ein Soziopath. Er hat dir dein Baby genommen, vermutlich sogar ohne schlechtes Gewissen.«
»Hm«, brummte Lucas, der ihre Theorie überzeugend fand.
»Wenn du nun kein Soziopath bist, was dann?«, fragte Alyssa. »Zwanghaft?«
»Vielleicht wie du ein wenig manisch, mit einer Prise Zwanghaftigkeit.«
»Und diese Neigung wirst du nutzen, um den Killer aufzuspüren.«
»Ja, ich werde ihn finden«, versprach Lucas.
»Bist du möglicherweise auch egomanisch, Lucas?«
Lucas, der sich mittlerweile gedanklich einem anderen Thema zugewandt hatte, sah sie an. »Martina ist doch sicher klein, dunkel und durchtrainiert, oder?«
Alyssa zuckte die Achseln. »Ich würde sie nicht als durchtrainiert bezeichnen, sondern als fit. Wenn sie nicht aufpasst, kriegt sie mit fünfundvierzig einen breiten Arsch. Sie hat braune Haare und ist größer als ich, am unteren Ende der Mittelgroßenskala.«
»Ich werde sie besuchen, jetzt gleich.«
»Ist dir gerade eine zündende Idee gekommen?«
»Nein, aber es wird höchste Zeit.«
Lucas brauchte eine volle Stunde, um den Termin mit Martina Trenoff zu arrangieren - fünfundvierzig Minuten für die Überwindung der General-Mills-Bürokratie, vierzehn für Telefonate, um ihren Arbeitsplatz ausfindig zu machen, nur noch eine, um das eigentliche Treffen zu vereinbaren: Sie klang kühl und professionell und erwartete seinen Anruf bereits.
Sie verabredeten sich im Caribou-Coffee-Shop am Minneapolis Skyway, weil sie nicht wollte, dass er sie in ihrem Büro bei General Mills aufsuchte.
»Wir könnten einfach die Tür schließen«, sagte Lucas.
»Mein Büro hat keine Tür«, erwiderte sie.
Er erkannte sie sofort, als sie sich ihm schnellen Schrittes auf dem Skyway näherte. Sie trug eine teure Damenaktentasche, einen männlich wirkenden marineblauen Hosenanzug, flache, bequeme Schuhe und eine Brille mit Metallrahmen. Martina Trenoff könnte durchaus die Fairy sein, dachte Lucas, obwohl in keiner der Beschreibungen von einer Brille die Rede gewesen war.
Sie betrat den Coffee-Shop, blickte sich um, entdeckte ihn, trat zu ihm und sagte: »Mr. Davenport.«
Er stand auf und streckte ihr die Hand hin, die sie schüttelte. »Ich hole mir einen Kaffee. Passen Sie in der Zwischenzeit bitte auf meine Tasche auf.«
Er beobachtete sie, wie sie in der Schlange wartete, noch drei, dann zwei Personen vor ihr, ungeduldig auf und ab wippte, einen Blick auf ihre Uhr, eine Rolex oder eine gute Kopie, warf. Nein, eine Kopie war das sicher nicht.
Als die Frau vor ihr sich nach den Geschmacksrichtungen im Angebot erkundigte, sah Lucas, wie Martina Trenoffs Kiefer zu mahlen begannen; sie stand unter Strom, und zwar immer. Schließlich orderte sie einen großen Kaffee, gab etwas Sahne hinein und brachte die Tasse mit ein paar Papierservietten zu seinem Tisch, wo sie sich setzte.
»Sie haben meinen Anruf also erwartet«, sagte Lucas und nahm einen Schluck von seiner Cola light.
»Ja. Alle wussten Bescheid über meine Beziehung mit Hunter und die Kündigung. Früher oder später musste doch jemand auf die Idee kommen, dass ich durchgedreht bin und mich an Alyssa gerächt habe.« Sie nippte an ihrem Kaffee und blickte Lucas über den Rand ihrer Tasse hinweg an. »Eine Verwechslung sozusagen … Es wirft nicht gerade ein gutes Licht auf die Vorgehensweise der Polizei, dass
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