Im Sommer sterben (German Edition)
Möwen kreischend ihre Kreise zogen.
Eschenbach schluckte und merkte, dass er vom Wein, der vor ihm stand, noch gar nichts getrunken hatte. Sollte er Bettlach etwas bestellen? Es schien ihm, als wäre er um Jahre gealtert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Irgendwie wirkte er zerbrechlicher, durchsichtiger als der römische Kaiser. Eschenbachs Groll war verschwunden.
Ein schlankes Mädchen, braun gebrannt, mit einem Piercing im linken Nasenflügel kam zu ihnen an den Tisch und brachte ein zweites Glas Wein. Die sonnengebleichten, blonden Locken, die sie mit einem roten Gummiband zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, erinnerten Eschenbach an Doris Hottiger. Er überlegte, ob Bettlach auch an sie dachte.
Fast eine Viertelstunde saßen sie wortlos da und tranken den Wein, der vom langen Warten viel zu warm geworden war. Das Servicepersonal war damit beschäftigt, an Wäscheleinen, die sie von Ast zu Ast und von Baum zu Baum gezogen hatten, bunte Lampions und Girlanden zu befestigen. Tische wurden abgedeckt und mit rotem Packpapier von einer Endlosrolle neu überzogen. Es folgten weißes Geschirr, weiße Servietten, Kerzenleuchter und Fähnchen. Es war der erste August.
Als die junge Frau mit dem Nasenpiercing vorsorglich die Rechnung brachte, war es Bettlach, der sie entgegennahm und beglich.
»Wir gehen gleich«, sagte er freundlich. Dann wandte er sich zu Eschenbach: »Doris hat mich angerufen, sie hat jemanden kennen gelernt. Einen jungen Polizisten … Jagmetti heißt er. Arbeitet auch hier in Zürich, kennen Sie ihn?«
Eschenbach räusperte sich. »Flüchtig …«
»So wie sie sich anhörte …« Er schmunzelte. »Ich glaube fast, sie ist verliebt.«
Sie standen schweigend auf und gingen.
»Papa, halt mal.« Kathrin balancierte auf einem Gartenstuhl und streckte Eschenbach Nagel und Hammer entgegen. »Ich komm da nicht ran … kannst du mal?« Sie zeigte auf den Holzbalken unter der Dachrinne.
»Was soll ich?«
»Knall einen Nagel rein … dann hängen wir den Lampion dran. Ist doch schön, oder?« Sie war einen halben Kopf größer als er, so wie sie auf dem Stuhl stand, mit ihren Bikinihosen, die nur knapp den Po bedeckten, und den langen Beinen, die sie von ihrer Mutter hatte.
Eschenbach fasste sie mit beiden Händen in der Taille, hob sie vom Stuhl, küsste sie auf die Stirn und stellte sie auf den warmen Steinboden.
»Du magst es nicht, wenn ich größer bin als du, oder?« Sie lachte.
»Doch, aber nicht, wenn du auf wackligen Stühlen herumbalancierst.«
»Du findest rote Lampions mit Schweizer Kreuz uncool. Ist aber hip, glaub mir.« Sie streckte ihm Hammer und Nagel entgegen. »Komm, sei lieb, Papa. Nur einen, ehrlich … oder höchstens zwei. Mama findet’s auch cool.«
»Hat sie das gesagt?«
»Nein. Sie hat hübsch gesagt … oder schön.«
»Oder romantisch? Hat sie nicht romantisch gesagt?«
»Vielleicht. Aber gemeint hat sie cool.«
»Wenn das so ist …« Eschenbach musste leise lachen. »Dann spannen wir jetzt eine Wäscheleine vom Balken da herüber zum Sonnenschirm, befestigen sie mit einem Mastwurf und ziehen sie weiter nach dort, wo wir sie mit einem Nagel befestigen.«
»Wow!«
»Und dann hängen wir alle Lampions dran, die wir haben.«
»Mega!« Sie schnalzte mit der Zunge. »Ich hol das Wäscheseil.«
»Oder eine starke Schnur. In der zweitobersten Schublade, in der Küche …«, rief er ihr nach, aber sie war schon weg.
Als Corina mit Tüten schwer beladen zur Wohnungstür hereinkam, war das Seil gespannt und alle Lampions hingen. Es sah aus wie auf einem chinesischen Hinterhofmarkt, fand Eschenbach. Corina fand es hübsch. »Richtig hübsch«, hatte sie gesagt.
»Und wenn es dunkel ist, dann zünden wir die Kerzen an«, meinte Kathrin, die auf der Holzbank an der Hauswand saß und in einer Modezeitschrift blätterte. »Dann wird’s richtig romantisch.«
»Cool«, sagte Eschenbach mit gespielter Lässigkeit. Er grinste und half Corina beim Auspacken. Sie sah ihn erstaunt an:
»Nicht du auch noch.« Sie küssten sich.
Eschenbach saß in der niedrigen Kabine von Gabriels kleinem Fischerboot. »Du wirst noch absaufen mit der Nussschale«, hatte ihm Corina frühmorgens prophezeit.
Tatsächlich hatte der Wetterbericht für den Nachmittag »lokale Gewitter mit teils heftigen Sturmböen« vorausgesagt. Am Ufer sah Eschenbach, wie die gelbe Warnleuchte blinkte, als ginge es um Leben und Tod. Er brauchte noch fünf Minuten bis ins Restaurant
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