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Im Sommer sterben (German Edition)

Im Sommer sterben (German Edition)

Titel: Im Sommer sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Theurillat
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wusste nicht, weshalb sie in die Redaktion zurückkehren wollte. Ihr Artikel würde nicht gedruckt werden; weder heute Nacht noch irgendwann später. Was also hatte sie dort zu suchen? Die Mordgeschichte war tot. Gestorben. Verendet am Schiss zittriger Chefredaktoren oder erstickt durch ein System, dessen Elementarkräfte sie nicht kannte. Xeno meinte, sie solle Randeggers Vorschlag annehmen und fürs Magazin den Artikel über von Dutch schreiben. »Die Marke ist Kult«, hatte er sich ereifert.
    Nach vier Gläsern Prosecco gab sie ihm Recht. Drei Wochen Zeit würde man ihr für die Recherche geben; ein paar Tage Los Angeles inklusive, und alles auf Spesen. Kein schlechtes Angebot also. Sie schlenderte über die Rathaus-Brücke und betrachtete das Spiel der Lichter am anderen Ufer der Limmat.
    Zwischen den Bäumen hindurch schimmerten farbige Glühbirnen, auf dem Wasser tanzten ihre Spiegelbilder wie fröhliche Funken. Marianne hielt inne, setzte sich einen Moment auf das wuchtige Brückengeländer und zog ein Bein zu sich hoch. Es war abends um halb elf, ein kühlender Luftzug umspielte ihren Nacken und ließ sie erschauern. Ihre Handflächen ertasteten die raue Oberfläche, auf der sie saß. Der Stein war angenehm warm; es war eine sinnliche Wärme, die von ihm ausging und die Marianne für das entschädigte, was ihr der Tag schuldig blieb.
    Der dünne Lederriemen ihrer Flip-Flops schmerzte zwischen den Zehen. Sie zog die Dinger aus und betrachtete einen Moment lang ihre Füße. Dann hüpfte sie hinunter auf den Gehsteig, ging barfuß die paar Schritte hinüber zum Limmatquai und setzte sich auf eine Bank, um die Schuhe wieder anzuziehen.
    Als sie ihre Magnetkarte durch den Schlitz am Eingang des Gebäudes vom Zürcher Tagblatt schob, war es kurz vor Redaktionsschluss. Letzte Sätze wurden gedrechselt, man sprintete von hier nach dort, weil man nicht sicher war, doch noch etwas Wichtiges vergessen oder übersehen zu haben. In dieser Hektik bemerkte man sie nicht. Das »Hallo« von Dario Hollenweger, Redaktor für Sport, war eine Ausnahme. Es war ein »Hallo«, das nicht wirklich zählte. Es galt nicht ihr; hätte ebenso an jemanden von der Reinigungsmannschaft, den Laufburschen oder an den Garderobenschrank gerichtet sein können. Ein Begrüßungsreflex aus der Tiefe geistiger Abwesenheit.
    Marianne setzte sich an ihr Pult und schaltete den Bildschirm an. Es war ein leeres Ritual, denn eigentlich wollte sie weder schreiben noch lesen. Sie wollte nur nicht allein sein, das war alles.
    Der Bildschirm flackerte.
    Sie nahm das Tagblatt und blätterte es durch; wollte die Sätze nochmals zählen. Waren es wirklich sieben? Sie suchte nach dem kleinen Abschnitt und stieß auf die Doppelseite mit den Todesanzeigen. »Fünfmal ist er gestorben«, grummelte sie vor sich hin und blätterte um, um zu sehen, ob auf der nächsten Seite noch eine sechste Anzeige folgen würde. Es kam keine mehr. Die Eidgenössische Technische Hochschule, der Schweizerische Offiziersverein, der Verband für Sportschützen, das Schweizer Olympia-Team von Rom und die Tochter. Sie alle hatten die schmerzliche Pflicht , das Bedauern oder die traurige Ehre . Nichts von Mord oder Totschlag, kein Ton von Rache oder Vergeltung.
    Marianne griff in die unterste Schublade und kramte das Päckchen Marlboro Gold hervor, das sie für den Notfall versteckt hielt; hinter einem dunkelblauen Etui mit Schminksachen. Zwei Wochen hatte sie es ohne ausgehalten, literweise Wasser getrunken und kleine Pflästerchen wechselweise auf Bauch und Rücken geklebt. Hautrötungen und Juckreiz in Kauf genommen; und natürlich Harndrang und immer wieder das Verlangen nach einem letzten Zug. Sie überlegte einen Moment, dann riss sie das Zellophan von der Schachtel, stand auf, nahm sich die Streichhölzer von Xenos Schreibtisch und zündete die Zigarette an.
    Der Rauch schlich über die Todesanzeigen hinweg, zog in kleinen Schwaden hinauf unter das grelle Licht der Halogenlampe und verflüchtigte sich. Erst paffte sie nur, dann inhalierte sie tief und genoss. Sie dachte daran, wie sie nach der letzten zahnärztlichen Reinigung dem hässlichen Zahnbelag abgeschworen hatte, der sich regelmäßig auf der Innenseite der Schneidezähne gebildet hatte. Sie wollte wieder lachen und dabei den Kopf in den Nacken werfen; mit der Zunge die polierten Zahnhälse ertasten. Ein Lächeln wie Zahnpasta! – Visualisieren und Durchhalten. Es war ihr erster Gedanke am Morgen und der letzte, bevor sie

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